Banken spekulieren in der Krise: Papiertiger US-Finanzreform
Die "ehrgeizigste Finanzreform seit der Weltwirtschaftskrise" in den USA entwickelt sich zu einem gigantischen Papierkrieg. Das freut die Banken, sie zocken weiter.
BERLIN taz | In den USA läuft ein Experiment, das weltweite Bedeutung hat: Lässt sich eine zweite Finanzkrise vermeiden? Mitspieler in diesem Großversuch sind die amerikanischen Großbanken, ihre Lobbyisten, die Aufsichtsbehörden, der Kongress, das Finanzministerium und ein paar Verbraucherschützer.
Das Experiment begann vor genau einem Jahr, als US-Präsident Barack Obama am 21. Juli 2010 ein Gesetz unterzeichnete, das er mit einem Superlativ umschrieb: Es sei die "ehrgeizigste Finanzreform seit der Weltwirtschaftskrise".
Nie wieder sollte es zu einer Pleite wie bei der US-Investmentbank Lehman Brothers kommen, die im Herbst 2008 das weltweite Finanzsystem erschüttert hat. Auch die Euro-Krise und der jetzige Schuldenstreit in den USA sind noch Fernwirkungen dieser Spekulationsblase, die vor fast drei Jahren geplatzt ist.
Doch bisher haben nur die USA reagiert. Sie sind mit ihrer Finanzreform vorgeprescht, während sich die EU noch nicht auf eine umfassende Bankenregulierung einigen konnte. Also dürften die USA zum weltweiten Maßstab werden. "Für andere Volkswirtschaften wird es schwierig sein, zu deutlich anderen Lösungen zu kommen", prognostiziert etwa DB Research, die Forschungsabteilung der Deutschen Bank.
Aber was schreibt die angeblich so ehrgeizige US-Reform eigentlich vor? Das ist nicht leicht zu ermitteln, obwohl das Gesetz eine Rekordlänge von 849 Seiten aufweist und von Hypotheken bis Verbraucherschutz scheinbar alles regelt (siehe Kasten). Doch konkrete Festlegungen wurden trotzdem vermieden. Entscheidend sind daher die 243 Verordnungen, die die Aufsichtsbehörden noch erlassen müssen.
21 Mal so hoch wie die Freiheitsstatue
Also wächst der Papierberg weiter. Inzwischen sind genau 3.369 Seiten hinzugekommen, wie die American Bankers Association auf ihrer Website tagesaktuell mitzählt. Das "Wall Street Journal" hat einmal ausgerechnet, dass alle Seiten der US-Finanzreform aneinander geklebt schon jetzt etwa "21 Mal so hoch wie die Freiheitsstatue" wären. Und das ist erst der Anfang. Denn bisher sind erst 6,2 Prozent der vorgesehenen Verordnungen verabschiedet worden, wie die New Yorker Anwaltskanzlei Davis Polk ermittelt hat.
Die letzten Vorschriften werden erst in zwölf Jahren in Kraft treten, doch die Sieger in diesem Langfrist-Experiment stehen schon fest: Den endlosen Papierkrieg gewinnen die Banken, die jede Anhörung und jeden Verordnungsentwurf nutzen, um die Aufsichtsbehörden mit Stellungnahmen zu bombadieren. Die American Bankers Association stellt dafür auch gern Formulierungsvorschläge bereit.
Die amerikanische Bankenregulierung soll die Missstände beheben, die in der Finanzkrise deutlich wurden. Dazu gehören:
Der Eigenhandel der Banken soll weitgehend eingeschränkt werden. Auch dürfen sie sich nur noch sehr beschränkt an Hedgefonds beteiligen.
Es soll keine unregulierte "Schattenbanken" mehr geben. Deswegen werden nun auch Hedgefonds überwacht.
Es soll keine bilateralen "Über-den Schalter-Geschäfte" mehr geben. Stattdessen sollen Derivate an Börsen gehandelt und mit Eigenkapital hinterlegt werden.
Verbraucherschutz wird gestärkt, damit keine überteuerten Kredite mehr an Hauskäufer ohne Einkommen vergeben werden.
Systemrelevante Banken müssen mehr Eigenkapital vorhalten, damit sie bei Verlusten nicht sofort in Konkurs gehen.
Dies sind jedoch nur Absichtserklärungen. Konkret wird es erst in 243 Verordnungen, die noch verabschiedet werden müssen. (uh)
Die US-Finanzreform versinkt in einem derartigen Chaos, dass es für die Banken leicht sein wird, alle Vorschriften zu umgehen. Oder wie es DB Research nüchtern formuliert: Es sei "Aufsichtsarbitrage" zu erwarten, was nichts anderes meint, als dass Banken ihre Produkte gezielt so gestalten, dass sie nicht unter die neuen Regeln fallen.
Lukrativer Derivathandel
Wie das Gezerre zwischen Banken und Aufsicht funktioniert, lässt sich bestens bei den Derivaten studieren. Diesen überaus lukrativen Handel will sich die Wall Street nicht zerstören lassen. Dabei können ausgerechnet Derivate wie "Massenvernichtungswaffen" auf den Finanzmärkten wirken, denn sie sind eine Mischung aus Versicherungen und Wetten. Käufer und Verkäufer spekulieren darauf, wie sich Zinsen, Devisenkurse, Rohstoffpreise oder auch Staatsanleihen künftig entwickeln. Mit minimalem Kapitaleinsatz können maximale Gewinne eingefahren werden - oder auch maximale Verluste.
Zudem sind die Volumina enorm, die um den Erdball kreisen. Der Nominalwert der Derivate lag zuletzt weltweit bei sagenhaften 601 Billionen Dollar. Und auch der saldierte "Marktwert", bei dem die Derivate-Wetten gegeneinander aufgerechnet werden, betrug noch immer 21 Billionen. Zum Vergleich: Selbst eine so große Volkswirtschaft wie die USA kommen nur auf ein Bruttoinlandsprodukt von 14,7 Billionen Dollar. Die Finanzwelt der Derivate hat sich längst von der Realwirtschaft abgekoppelt.
Der Handel mit Derivaten konzentriert sich auf wenige Banken. In den USA beherrschen die fünf größten Investmentbanken 96 Prozent des Derivate-Geschäfts. Allein JP Morgan kontrolliert etwa ein Viertel des gesamten US-Handels. Das zahlt sich aus: Für ihre Dienste erhielten die Banken 2010 Provisionen in Höhe von 22,5 Milliarden Dollar.
Also haben die Banken keine Lobby-Anstrengung gescheut, um die Derivate einer Kontrolle zu entziehen. Mit Erfolg: Im Juni gaben die US-Aufsichtsbehörden bekannt, dass sie den Derivate-Handel vorerst nicht regulieren - und dass mit Vorschriften nicht vor Jahresende zu rechnen sei.
Verbraucherschützer oder Gewerkschafter kommen kaum zu Wort
Diese Frist werden die Banken nicht ungenutzt verstreichen lassen. Schon jetzt sprechen sie täglich bei den Aufsichtsbehörden vor. Das US-Finanzministerium veröffentlicht rückwirkend für jeden Monat, mit welchen Lobbyisten verhandelt wurde. Allein die jüngste Liste für Mai füllt 30 Seiten, und fast immer waren es Abgesandte der Finanzbranche, die ihre Bedenken darlegen durften. Nur ganz selten wird einmal ein Verbraucherschützer oder ein Gewerkschafter erwähnt.
Dieser massive Aufmarsch der Finanz-Vertreter ist nicht überraschend, denn an ihnen herrscht kein Mangel. Für das Jahr 2010 wurden in Washington 2.533 Lobbyisten der Banken und Versicherungen gezählt. Auf jedes einzelne Kongressmitglied kamen also gleich fünf Finanz-Angestellte.
Das ist nicht billig: Die Finanzinstitute haben von 1998 bis 2010 mindestens 4,4 Milliarden Dollar für die gezielte Einflussnahme in Washington ausgegeben, wie das unabhängige Center for Responsive Politics ermittelt hat. Dagegen haben Gewerkschaften und Verbraucherschutzorganisationen keine Chance: Gemeinsam kommen sie noch nicht einmal auf zehn Millionen im Jahr, die sie fürs Lobbying ausgeben - und dieses Geld muss für so unterschiedliche Themen wie Arbeitnehmerrechte, Umweltstandards und Derivatehandel reichen. "Wir beschäftigen uns ja nicht nur mit den Finanzreform", sagt Bankexpertin Heather Slavkin vom Gewerkschaftsbund AFL-CIO, die dort allein die Lobbyarbeit zur Finanzreform stemmen muss. "Wir können mit den Banken schlicht nicht konkurrieren."
Üppige Wahlkampfspenden
Zudem investiert die Finanzbranche nicht nur ins Lobbying - weitere zwei Milliarden Dollar wurden zwischen 1990 und 2010 für die diversen Wahlkämpfe gespendet. So hat allein der Demokrat Christopher Dodd 15 Millionen vom Finanzsektor erhalten. Pikant daran: Dodd war der Verhandlungsführer für den US-Senat, als die neue Finanzreform ausgearbeitet und vor einem Jahr verabschiedet wurde. Sein Partner im Repräsentantenhaus war Barney Frank - weswegen das Gesetz nun offiziell "Dodd-Frank Act" heißt. Frank bekam übrigens rund 4 Millionen Dollar von den Banken, versicherte aber kürzlich bei einem Fundraising-Dinner an der Wall Street, er sei "nicht käuflich".
Zur Macht der Banken trägt bei, dass die Aufsicht fast machtlos ist. So wurde in den US-Medien amüsiert berichtet, dass Gary Gensler, Chef der Kontrollbehörde CFTC, eine Reise nach Brüssel selbst bezahlen musste, um mit seinen europäischen Kollegen über den weltweiten Derivatehandel zu beraten. Denn seine Behörde hatte keine Mittel mehr übrig für den Flug nach Europa.
Doch der Aufsicht fehlt nicht nur Geld. Vor allem wurde sie durch den Dodd-Frank Act noch weiter zersplittert. "Die Finanzindustrie hatte Angst, dass eine Behörde zu mächtig werden könnte", sagt die Politikprofessorin Sharyn O' Halloran von der New Yorker Columbia Universität. "Also wurde die Zahl der wichtigen Spieler erhöht." Insgesamt gibt es in den USA rund 135 Aufsichtsorgane - und allein für die großen Banken sind landesweit neuerdings elf Behörden zuständig, deren Kompetenzen sich fast immer überschneiden. Bei jedem Thema - ob Hedge Fonds oder Derivate - sind mindestens zwei Kontrollorgane involviert. "Das System wurde bewusst so gestaltet, dass es ineffektiv ist", stellt O'Halloran fest.
Finanzexpertin Slavkin sieht die Reform ähnlich kritisch. "Die Märkte werden vielleicht ein wenig transparenter. Aber die Zockerei an der Wall Street geht weiter."
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