Band des „Editionsprojekts Holocaust“: Keine Fotos der Morde
Ein neuer Dokumentenband über die Vernichtung der Juden im Deutschen Reich, Böhmen und Mähren belegt auch das Verschweigen der Verbrechen.
In der NS-Zeitung Danziger Vorposten erschien am 13. Mai 1944 ein antisemitisches Pamphlet. Es wimmelte darin von den üblichen Metaphern vom Juden als Krebsschaden und Parasit. Der Verfasser war Wilhelm Löbsack, ein stadtbekannter NS-Propagandist, dem solche Appelle zu dem Spitznamen „Goebbels von Danzig“ verholfen hatten.
Nach dem Krieg stieg er in der Bundesrepublik erfolgreich auf das Genre Kriminalromane um. Der Artikel vom 13. Mai, „Juda vor dem Fall“ betitelt, war nichts Besonderes, bis auf eine Passage am Ende. Das Judentum habe „schwere Einbußen zu verzeichnen“.
In den „Kerngebieten jüdischer Zusammenballung“, Polen und Ungarn, „sind allein fünf Millionen Juden ausgeschaltet worden“. Löbsack war Gaupropagandaleiter und musste wissen, was er schrieb. Die Nazis hatten Millionen jüdische Zivilisten ermordet. Da stand es, schwarz auf weiß, fast amtlich beglaubigt.
Die Verbrechen wurden selten so klar ausgesprochen. Sie wurden in der NS-Propaganda als nötige Rache gerechtfertigt, sie wurden umschrieben und angedeutet. Aber es war verboten, sie konkret zu benennen. Der Friseur Karl Bötsch, 1943 Soldat im Osten, bekam an der Front Post von zu Hause.
Buchvorstellung am 17. November um 19 Uhr in Berlin: www.topographie.de/livestream/
„Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933–1945: Deutsches Reich und Protektorat Böhmen und Mähren, April 1943–1945“. Bearbeitet von Lisa Hauff, De Gruyter – Oldenbourg Verlag, Berlin 2020, 822 Seiten, 59,95 Euro
Geöffnete Gräber und Leichenverbrennung
Die NSDAP-Kreisleitung Lippe ermahnte den Obergefreiten, beim nächsten Heimaturlaub seinen Bekannten nicht wieder Fotos von der Erschießung von Juden zu zeigen. „Ich möchte Sie bitten, solches nicht wieder zu tun, Heil Hitler!“
Die systematische Ermordung von Millionen Juden durch deutsche Soldaten und SS-Leute im Osten ging nicht klandestin vor sich. Eine Außenstelle des Sicherheitsdienstes nahe Würzburg meldete im Oktober 1943 in dem üblichen Bericht zur Stimmungslage in der Bevölkerung, dass ein Gerücht die Runde machte, der Führer habe angeordnet, die im Osten getöteten Juden „wieder ausgraben und verbrennen zu lassen“, damit dem Feind kein Propagandamaterial in die Hände falle.
Dieses Gerücht hatte Katyn als Hintergrund, die von der NS-Propaganda weidlich ausgenutzte Entdeckung der Massengräber polnischer Soldaten, die Stalin hatte ermorden lassen. Dieses Gerücht war zudem zeitlich erstaunlich zutreffend. Im Frühjahr 1943 hatte die „Aktion 1005“ begonnen, bei der die SS Juden und Kriegsgefangene zwang, Massengräber von Juden zu öffnen und die Leichen zu verbrennen, um Spuren des NS-Massenmordes zu beseitigen.
Es gab wache Zeitgenossen, die aus Gerüchten, Erzählungen von Soldaten, Ausrottungsankündigungen in den NS-Reden und BBC-Berichten ein Bild dessen zusammenfügten, was im Osten geschah. Beredtes Zeugnis dafür ist das Tagebuch des Lebkuchenbäckers Daniel Lotter aus Fürth.
Wer Augen und Ohren öffnete, wusste, was geschah
Die „kulturell hochstehenden Deutschen“, schrieb er am 15. April 1943, haben „Hunderte Insassen von Heil- und Pflegeanstalten und Tausende von Juden – auch Frauen und Kinder ermordet“. Er habe dies „oft von glaubwürdiger Seite versichert bekommen“. Die Nazis tauchten ihre Verbrechen in ein Zwielicht. Wer Augen und Ohren öffnete, wusste, was geschah.
Diese Dokumente sind in dem jüngst erschienenen Band 11 des voluminösen „Editionsprojekts Holocaust“ nachzulesen. Er zeigt anhand von rund 300 Texten Perspektiven von Tätern, Opfern und Zuschauern. Man liest den Brief eines deutschen Lehrers, der Goebbels auffordert, Juden öffentlich erschießen zu lassen.
Den verzweifelten Brief eines Schweizer Grenzbeamten, der jüdische Familien nach Italien in den Tod abschiebt. Die letzte Aufzeichnung eines Juden, der in einem Berliner Hotel den Freitod wählt und an die Besitzerin schreibt: „Es tut mir leid, Ihnen Unannehmlichkeiten bereitet zu haben.“ Der Band umfasst die Zeit von 1943 bis zum Kriegsende und fokussiert das Gebiet des Deutschen Reiches.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
BGH-Urteil gegen Querdenken-Richter
Richter hat sein Amt für Maskenverbot missbraucht
Umweltfolgen des Kriegs in Gaza
Eine Toilettenspülung Wasser pro Tag und Person
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Biden genehmigt Lieferung von Antipersonenminen
BSW stimmt in Sachsen für AfD-Antrag
Es wächst zusammen, was zusammengehört
Streit in der SPD über Kanzlerkandidatur
Die Verunsicherung