Balkan-Korrespondent über den Jugoslawienkrieg: „Aus dem Krieg gelernt“
Als Jugoslawien zerfiel, war Norbert Mappes-Niediek dort Korrespondent. In seinem neuen Buch sortiert er Dynamiken, Kalkulationen und Fehlschlüsse.
taz: Herr Mappes-Niediek, sind die aktuellen Auseinandersetzungen zwischen Serbien und dem Kosovo wegen der Autokennzeichen eine weitere Folge von dem, was Sie in Ihrem neuen Buch „die Dauerserie“ nennen, die den Titel „Der Balkan brennt – mal wieder“ tragen könnte?
Norbert Mappes-Niediek: Nein. Mit „Dauerserie“ meine ich das jahrhundertelange mal friedliche, mal konfliktreiche Zusammenleben der Volksgruppen in verschiedenen Staaten und Reichen. Die letzte Folge dieser Serie wurde mit dem Kosovokrieg 1999 abgedreht. In der alten Serie gab es immer Stoff für Entwicklung, zum Guten wie zum Schlechten. In der neuen Serie entwickelt sich gar nichts mehr. Seit der staatlichen und gesellschaftlichen Trennung können Kroaten, Albaner, Serben oder Bosnier ihre schlimmen Erfahrungen mit der je anderen Volksgruppe nicht mehr durch neue, bessere Erfahrungen relativieren. Das letzte gemeinsame Erlebnis ist eine Schlachtszene. Sie wurde zum Standbild, zum Screenshot.
geboren 1953, war ab 1991 freier Korrespondent für Südosteuropa, unter anderem für die Zeit und den Standard. Heute lebt er in Graz. Kürzlich erschien im Rowohlt Verlag sein aktuelles Buch: „Krieg in Europa. Der Zerfall Jugoslawiens und der überforderte Kontinent“
Wieso hatte Ihrer Meinung nach Tito, der Gründer und Präsident des sozialistischen Jugoslawiens, einen Anteil an der Ethnisierung der Konflikte?
Das alte Königreich Jugoslawien hatte die besonderen Ansprüche der muslimischen Bosnier, der katholischen Kroaten, der Albaner überhaupt nicht berücksichtigt. Tito wollte den Fehler nicht wiederholen und hat stattdessen ein ethnisches Gleichgewicht geschaffen. Am Ende waren alle Lebensbereiche ethnisch durchquotiert. Das hat die Identitäten verfestigt. Immer ging es darum, ob dieser oder jener Posten, diese oder jene Ressource an dieses oder jenes Volk ging. Wer unterdrückt wen, wer kriegt mehr, wer weniger? Das war stets Thema Nummer eins.
Und Papa entschied, wer gewinnt?
Genau. Aber Tito war, anders als oft behauptet, nicht der Diktator, er war der Schiedsrichter. Als er starb, blieb diese Rolle unbesetzt. In Bosnien wurde sie dann nach dem Krieg einem Ausländer übertragen: dem Hohen Repräsentanten.
Zeigt das Beispiel Jugoslawien, dass die Quote keine Lösung ist?
Die starre ethnische Quote ist es jedenfalls nicht. Über die Berechtigung etwa einer Frauenquote sagt die jugoslawische Erfahrung aber natürlich nichts aus.
Sie zitieren einen jugoslawischen Wirtschaftsexperten mit der Aussage, dass sich in Jugoslawien alle von allen ausgebeutet fühlten, und zwar zu Recht.
Ja. Man kann sich das Verhältnis so ähnlich vorstellen wie in der EU zur Zeit der griechischen Schuldenkrise. Die einen meinen, sie zahlten in ein Fass ohne Boden, und die anderen verweisen darauf, dass sich die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter öffnet.
Droht der EU ein ähnliches Schicksal, also Zerfall?
Sagen wir mal: Es geht so lange gut, wie alle Seiten gewinnen und solange die Gemeinschaft als Mannschaft betrachtet wird und nicht als eine Liga, wo einer gegen den anderen spielt. Immerhin hat es die EU geschafft, das Wohlstandsniveau durch die Osterweiterung tendenziell an den Westen anzugleichen. Aber diese Entwicklung ist stehen geblieben.
Hätte die EU, wie Joschka Fischer 1999 forderte, die Staaten aus dem ehemaligen Jugoslawien komplett und sofort in die EU aufnehmen sollen?
Ja. Aber zu keinem Zeitpunkt war die EU bereit, das Versprechen von Saloniki 2003, alle Staaten aufzunehmen, Wirklichkeit werden zu lassen.
Was würde passieren, wenn nun die Ukraine vor Bosnien in die EU aufgenommen werden würde?
Wahrscheinlich nicht viel. Die Regierungen der sechs sogenannten West- oder besser: Restbalkanstaaten haben sich im Wartezimmer der EU ziemlich gut eingerichtet.
Die Debatte zur Frage, ob die frühe Anerkennung der Republiken durch Deutschland zur Eskalation des Krieges beitrug, findet zu jedem Jahrestag wieder statt. Mir ist aber immer noch nicht klar, wie die Deutschen es damals geschafft haben, die internationale Gemeinschaft auf ihre Seite zu ziehen.
Im zweiten Halbjahr 1991, als die Debatte um die Anerkennung von Kroatien und Slowenien geführt wurde, musste jedem klar sein, dass Jugoslawien nicht zu retten war. Wichtige politische Vermittler wie der europäische Verhandlungsführer Lord Carrington, der UN-Sonderbeauftragte Cyrus Vance und der UN-Generalsekretär Javier Pérez de Cuéllar warnten nicht deshalb vor einer frühzeitigen Anerkennung, weil sie Illusionen über den Fortbestand Jugoslawiens hatten, sondern weil sie wussten, dass das für Bosnien nichts Gutes bedeuten würde. Die Deutschen haben die Warnungen vom Tisch gewischt.
Warum?
Nach Aufhebung der Archivsperre habe ich beim Auswärtigen Amt den Briefwechsel zwischen der Botschaft in Belgrad, dem Generalkonsulat in Zagreb und der Zentrale in Bonn gelesen. Bosnien war für Bonn kein Thema. Sie sind einfach mit dem Tunnelblick des Jägers auf das moralische Ziel losgegangen: die Anerkennung. Damit auch Frankreich mitzieht, hat man sich dann auf einen fatalen Kompromiss geeinigt: Alle jugoslawischen Republiken sollten als unabhängig anerkannt werden, wenn sie Minderheitenrechte in der Verfassung und eine Volksabstimmung vorwiesen. Bosnien musste sich innerhalb einer Woche entscheiden, ob es weiter – unter Milošević’ Dominanz – in Jugoslawien bleiben oder unabhängig werden wollte. Eine Wahl zwischen Pest und Cholera.
Inwiefern?
Auf der einen Seite drohte das Absinken zu einer marginalisierten Minderheit in einem serbisch dominierten Restjugoslawien, auf der anderen ein Bürgerkrieg. Schließlich war ein knappes Drittel der Bevölkerung serbisch. Kohl und Genscher haben das Dilemma überhaupt nicht wahrgenommen – wenn auch nicht aus bösen Absichten oder dem Wunsch nach Hegemonie im neuen Europa.
Sondern weil sie glaubten, das würde den Krieg beenden?
Ja. Man wollte dieses Jugoslawiending schnell aus der Welt schaffen. Man musste sich einig werden, denn exakt als der Konflikt aufflammte, konzentrierte sich Europa auf den historischen Gipfel von Maastricht, auf dem alles beschlossen werden sollte, was die EU bis heute ausmacht – unter anderem die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik. Aber die Deutschen haben sich auch deshalb durchgesetzt, weil niemand eine brauchbare Alternative hatte.
Hat die internationale Politik aus dem Jugoslawienkrieg gelernt?
Irgendwie ja. Ein Fehler der Diplomatie damals war, dass sie sich nicht entscheiden konnte zwischen Parteinahme und neutraler Vermittlung. Diesen Fehler hat die westliche Gemeinschaft in der Ukraine jedenfalls nicht gemacht.
Ist Putin ein Wiedergänger von Milošević?
Nein. Milošević wurde oft als eine Art Mastermind der Kriege missverstanden. In Wirklichkeit hat er agiert wie ein Banker – der er im Übrigen tatsächlich war. Banker haben kein festes Ziel. Sie wollen immer nur den Kurs ihres Aktienpakets oben halten. Milošević war weder der teuflische noch der geniale Regisseur des Geschehens. Er war vielmehr sehr flexibel in seinen Zielen und dabei vor allem eins: skrupellos.
Ethnische Säuberung und Genozid waren Begriffe, die seit dem Jugoslawienkonflikt in den politischen Wortschatz eingingen. Auch im Krieg gegen die Ukraine spielen sie wieder eine Rolle. Wie tauglich sind diese Begriffe?
Was Genozid ist und was nicht, entscheiden internationale Gerichte. Im Fall Srebrenica war der Tatbestand sicher erfüllt. Dass der Begriff inzwischen – und nicht nur mit Blick auf Jugoslawien – so häufig fällt, darf man wohl auch mit dem Wunsch erklären, sich und seiner eigenen Nation eine Art kollektive Unschuld zuzusprechen. Als Opfer eines Genozids ist man praktisch für alles entschuldigt.
Ist der Internationale Strafgerichtshof das wichtigste Ergebnis des Jugoslawienkrieges?
Er hätte es werden können. Aber Russland, China und die USA machen nicht mit. Von der Utopie, dass man Verbrechen über alle Grenzen hinweg verfolgen, dass man mächtige politische Verbrecher bestrafen könnte, ist damit nicht viel mehr übriggeblieben als ein Rumpfgerichtshof, der allenfalls Verbrechen in afrikanischen Staaten verfolgen kann – und der deswegen auch noch dem Vorwurf des Rassismus ausgesetzt ist. Solange einer internationalen Gerichtsbarkeit keine Exekutive zur Verfügung steht, die Urteile vollstrecken und politische Verbrecher verhaften kann, wird man Recht und Macht nie sauber trennen können.
Einerseits ist Srebrenica auch im Westen ein Begriff für schlimmste Verbrechen. Andererseits scheint der Jugoslawienkrieg völlig vergessen. Als hätte er nie stattgefunden, sprach beispielsweise die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock im Februar vom ersten Krieg in Europa seit 1945.
Ja, das ist schon erstaunlich. Vielleicht liegt es daran, dass man in Europa das Geschehen in Jugoslawien fälschlich für eine verspätete Nationenbildung hielt, die der Westen 100 Jahre früher durchgemacht hatte. Manche mögen auch das irrige Gefühl haben, der Balkan gehöre nicht zu Europa. Beides hat es erleichtert, die Kriege zu verdrängen.
Die Brutalität des Krieges tat dazu sicher ihr Übriges. Warum er so blutrünstig war, ist immer noch eine offene Frage, oder?
Viele Täter kamen aus gewaltnahen Milieus: Hooligans, Kriminelle, Söldner, Glücksritter, die vom Geheimdienst unterstützt wurden, Rückkehrer, die in der Diaspora ultranationalistische Narrative gepflegt haben und keine Scham hatten zu plündern, zu morden, zu vertreiben, für die schmutzige Alltagsarbeit der ethnischen Säuberungen. Aber es gab auch die Nachbarschaftstäter. Das ist vielleicht das gruseligste Kapitel der Kriege.
Teilweise wurden die brutalen Mörder als Helden gefeiert.
Ja, aber interessanterweise gibt es außer im Kosovo in keinem Nachfolgestaat heute einen ungebrochenen Veteranenkult. Ob jemand ein Held war oder ein Verbrecher, werden die Gesellschaften wohl erst entscheiden, wenn sie sicher wissen, ob der Untergang Jugoslawiens für sie ein Segen oder ein Fluch war.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Vorsicht mit psychopathologischen Deutungen
Kochen für die Familie
Gegessen wird, was auf den Tisch kommt
Insolventer Flugtaxi-Entwickler
Lilium findet doch noch Käufer
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Polizeigewalt gegen Geflüchtete
An der Hamburger Hafenkante sitzt die Dienstwaffe locker
US-Interessen in Grönland
Trump mal wieder auf Einkaufstour