Bahnhof in Wuppertal: Das Wunder am Stinkefluss
Die Stadt an der Wupper hat nicht den besten Ruf. Dennoch lässt sich dort mit einem Klavier im Hauptbahnhof ein kleines Wunder vollbringen.
taz | Viele müssen lachen, wenn sie das Wort Wuppertal hören. Ein Grund dafür ist, dass es so lustig durch den Mund plätschert. Doch bevor wir hier mitlachen, müssen wir zuvor durchs Wuppertal der Tränen waten. Damit das Wunder dann umso schöner strahlen kann.
Die meisten, die über Wuppertal lachen, tun dies aus Hohn und Spott. Man kennt die Schwebebahn, von der die meisten wissen, dass mal ein Elefant herausfiel, der Tuffi hieß. Heute heißt ein Joghurt so. Weiter assoziiert man: arme, dreckige Stadt am Stinkefluss. Überall Müll, kaputte Gegenstände, Leerstand. Personen, die am Stadtrand mit Koffern voller Geld gesehen werden, sind fliehende Investorinnen. Wuppertal hat nicht ein, sondern ist das großstädtische Imageproblem.
Das Wuppertaler Volk ist ebenfalls kritisch eingestellt. Umfragen ergaben: Die Stadt ist schlecht für Familien mit Kleinkindern, Radfahrer und ängstliche Alte. Es ist zu eng hier, durchs Tal quälen sich die Wupper, die Bahn, die B7 und die Schwebebahn. Wissenschaftler fragten mal nach „Angsträumen“ und „Unwohlorten“. Das Ergebnis war ein Stadtplan mit Akne. Der dickste Pickel saß auf dem Hauptbahnhof. Hier führte bis vor Kurzem ein gut 200 Meter langer niedriger, fieser, nach Urin stinkender Fußgängertunnel von der Innenstadt unter der B7 durch zum Bahnhof. Spitzname: Harnröhre.
Und jetzt das Wunder. Ein großer, weißer Saal. Der Fußboden ist weiß mit grauen Sprenkeln, hochglänzend, man könnte von ihm essen. Statt dicker Säulen wird das Dach von schlanken, bambusartigen und umeinander gewundenen Streben getragen, sogenannten Mikadostützen. So was erzeugt eine gewisse schicke Transparenz, wenn dazu noch Tageslicht von oben einfällt und helles Kunstlicht von überall her strahlt. Es gibt Bänke und ein Klavier. Daran sitzt ein älterer Herr, kleine Brille, graue Kappe, Rucksack, und spielt Blues.
Die Besonderheit
Wegen des steilen Anstiegs des Geländes mussten am Wuppertaler Hauptbahnhof gewaltige Mauern errichtet werden. Eine schöne Idee der Architekten war, sie durch Auslassen von Steinen zu perforieren, um sie transparent und leicht wirken zu lassen. Das funktioniert tatsächlich gut. Blöd nur, dass sich bei Regen die Steine vollsaugen, um bei Frost zu platzen und Passanten zu gefährden.
Die Zielgruppe
Wer gern über Architektur redet oder nachdenkt, ist hier richtig. Noch richtiger ist hier, wer gern ein erstaunlich friedvolles Zusammenleben unterschiedlichster Kulturen und Milieus betrachtet.
Hindernisse auf dem Weg
Bei der Anreise: Weselsky und die streikenden Lokführerinnen. Vor Ort: Das Wuppertalwetter (immer Regen).
Für immer für Elise
Was an coole US-Kleinflughäfen erinnert, das ist der Wuppertaler Hauptbahnhof. Genauer: seine Bahnhofshalle. Leute hasten aus der City zum Zug oder zum Busbahnhof, besuchen Cafés oder den kleinen Supermarkt, aber es ist nicht laut hier. Ein kleines Mädchen erfindet eine traurige Melodie, ein junger Mann kann Tschaikowsky (und wird umringt), ein Schwarzer mit Rastalocken hat ein schönes Moll-Thema drauf, sein Handy steht dabei auf dem Notenständer – er macht gleichzeitig einen Videocall. Auffallend oft bringen Mädchen um die 13 „Für Elise“ zu Gehör.
Das Wunder vom Hauptbahnhof umfasst ein ganzes Quartier, nämlich das Gebiet zwischen Wupper und den am aufragenden Döppersberg eingeklemmten Bahngleisen. Von 2014 bis 2018 wurde es in einer unvergleichlichen und für Wuppertal eigentlich undenkbaren Anstrengung neu erfunden; dabei wurde die B7 für ganze drei Jahre gesperrt und um 7 Meter tiefer gelegt. Wo früher die Menschen unter den Autos hindurchkrochen, flanieren sie heute über eine als Brücke nicht erkennbare Überbauung. So ist zwischen dem Ende der Fußgängerzone und dem Eingang zur Bahnhofshalle eine großzügige Promenade entstanden, fast ein Platz. Ein ziemlich berühmtes Architekturbüro (Chapman Taylor, London) stellte weithin unübersehbar einen gewaltigen Kubus mit wellenartig gefalteter Fassade auf. Der mal golden wirkt (Wow-Architektur!), mal rostig (drinnen sitzt der Textildiscounter Primark).
Das Wunder und die anderen
Nun reicht es für ein richtiges Wunder ja leider nicht, Erde zu bewegen, Häuser hinzustellen und die Eröffnung zu feiern. Denn um auf Dauer einen Angst- in einen Wohlfühlraum umzuwandeln, muss man ein paar heikle Punkte ins Auge fassen. Tauben zum Beispiel. Penner. Süchtige. Verrückte. Sprayer. Müllfallenlasser. Man muss eben auch über Ordnung und Sauberkeit reden.
Die Wuppertaler Politik machte immer wieder Bürgerbefragungen, versammelte Einzelhändler, den Betreiber eines Cafés für Drogenabhängige, die Polizei, die Wissenschaft (Uni Wuppertal) und Stadtplaner. Und stellte fest: Es gibt ein Recht auf Stadt für alle. Sogar für Obdachlose und Junkies. Und es braucht Polizeistreifen, Videoüberwachung und täglich Putzkolonnen mit Hochdruckreinigern.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Sechs Jahre nach Eröffnung des neuen „Döppersbergs“, wie der Ort nach einer Bürgerbefragung heißt – „Tuffiplatz“ hat es nicht geschafft –, ist es immer noch sauber hier. Sogar am Wupperufer, wo für „Menschen mit dem Lebensmittelpunkt Straße“ ein begrünter Platz mit Drogenberatungscafé gebaut wurde. Die Stadt hat es soeben auf die Short-List des Stiftungspreises „Lebendige Stadt“ geschafft, Kategorie „schönstes Bahnhofsumfeld“. Mitte April wird der erste Platz verkündet. Geht doch!
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