BKK-Gesundheitsatlas 2015: Besonders depressiv in Hamburg

Immer mehr Menschen bekommen vom Arzt eine Psychodiagnose gestellt. In manchen Regionen geschieht das besonders häufig.

Tagesklinik in Gera

Station Hoffnung: Tagesklinik in Gera Foto: dpa

BERLIN taz | Die Patientin klagte über Rückenschmerzen, Schwindel, Stress und Schlaflosigkeit. Überhaupt habe die Arbeitsbelastung und privater Ärger zugenommen. Der Hausarzt nickte verständnisvoll und gab im Computer die Diagnose der Rückenschmerzen ein, und dann noch die Diagnose einer „depressiven Episode, nicht näher bezeichnet“ mit der Nummer „F32.9“. Er stellte der Patientin anheim, ein Antidepressivum zu nehmen oder es mit Johanniskraut zu versuchen oder einfach erstmal abzuwarten.

Fälle wie diesen, den ein Allgemeinarzt beschreibt, gibt es zu tausenden in Deutschland. Bei der Patientin wird die Nummer „F 32.9“ nun immer wieder im Computer des Hausarztes erscheinen und von diesem Arzt wieder bestätigt werden, wenn die Frau bei ihm über irgend etwas klagt. In der Statistik einer Krankenkasse wie der BKK wird der Fall zum statistischen „Anstieg der psychischen Erkrankungen“ beitragen. Dabei sieht die Entwicklung bei den seelischen Befindlichkeiten in Wirklichkeit gar nicht so dramatisch aus, wie der Dachverband der BKK am Donnerstag bei der Vorstellung des „Gesundheitsatlas 2015“ erklärte.

Der Dachverband beauftragte Frank Jacobi von der Psychologischen Hochschule Berlin, die BKK-Abrechnungsdaten mit epidemiologischen Befunden aus der Bevölkerung aus den Jahren 1998 und 2012/2013 abzugleichen. Die Studien, an denen auch das Robert-Koch-Institut, die Psychiatervereinigung DGPPN und die Technische Universität Dresden beteiligt waren, ergaben, dass etwa ein Drittel der Bevölkerung über seelische Beeinträchtigungen klagten, genauso hoch war der Anteil der „Psychodiagnosen“ im Versichertenbestand der BKKs im Jahre 2013 gewesen.

Das Interessante daran: Bereits im Jahre 1998 hatte ein Drittel der Bevölkerung in anonymisierten Interviews über seelische Leiden geklagt. Damals waren aber weniger als fünf Prozent der ärztlichen Diagnosen Psychodiagnosen gewesen. Im Unterschied zu den BKK-Daten zeigen die „epidemiologischen Daten auf Bevölkerungsebene keine generelle Zunahme psychischer Störungen seit Ende der 1990er Jahre“, erklärte Jacobi.

Die Zunahme der Psychodiagnosen in den Abrechnungsdaten der Kassen beruhe unter anderem darauf, dass psychische Leiden nicht mehr so stark stigmatisiert seien wie früher, sagte Jacobi. Aber auch die fortschreitende Digitalisierung sorge dafür, dass per Computer erfasste und weitergeleitete Krankendaten – also auch Psychodiagnosen – heute in den Krankenakten von Ärzten, Kliniken, Krankenkassen und Rentenversicherern auf Dauer verbleiben und nicht immer mal wieder überprüft werden.

Eine „Überdiagnose“ ist möglich

Jacobi sprach sogar von einer möglichen „Überdiagnostizierung“ der seelischen Belastungen. Denn eigentlich müsste sich nicht jeder Kummer gleich in einer sogenannten Erkrankung niederschlagen. „Der Trend der kontinuierlichen Zunahme von Krankschreibungen aufgrund psychischer Probleme könnte dazu führen, dass sich Menschen zu schnell als behandlungsbedürftig erleben und auch bei ‚normalen“, vorübergehenden psychischen Belastungen das Hilfesystem aufsuchen“, erklärte Jacobi.

Außerdem wird, was früher als Muskelverspannungen, Verdauungsschwierigkeiten oder Kreislaufprobleme galt, heute öfter mal zur Depressionsdiagnose. „Noch vor zehn, 15 Jahren wurden Patienten mit Symptomen, die auf ein psychisches Leiden hindeuten, viel häufiger unspezifische körperliche Beschwerden attestiert“, sagte der Chef des BKK-Dachverbandes, Frank Knieps. Allerdings führt nicht jede Diagnose zu einer Krankschreibung: Nur in jedem sechsten Fall einer Psychodiagnose stellt der Arzt tatsächlich eine Krankschreibung für den Arbeitgeber aus.

Rund 15 Prozent aller Krankentage mit ärztlichem Attest gehen auf psychische Erkrankungen zurück, vor allem auf Depressionen. Wer wegen Depressionen fehlt, fällt sogar länger aus als ein Beschäftigter, bei dem eine Tumorerkrankung diagnostiziert wurde und der nach der Behandlung an den Arbeitsplatz zurückkehrt, zeigen die BKK-Daten.

Bei den Diagnosen zeigen sich große regionale Unterschiede. Bei den Krankschreibungen wegen depressiver Episoden pro Einwohner weist beispielsweise Hamburg die höchste Rate auf, während Baden-Württemberg eine eher niedrige Rate hat.

Steigende Zahl von Krankschreibungen

Eine hohe Dichte an Hausärzten, Fachärzten und Psychotherapeuten begünstigen Krankschreibungen wegen psychischer Leiden. Die Zahl der Krankschreibungen wegen Depressionen ist in den östlichen Bundesländern deutlich niedriger ist als in Nordrhein-Westfalen oder Schleswig-Holstein. Auch Antidepressiva werden etwa in Sachsen-Anhalt sehr viel weniger verordnet als in Bayern.

Die steigende Zahl von Krankschreibungen wegen psychischer Diagnosen hat inzwischen zu einer Gesetzesänderung geführt. Nach dem neuen Versorgungstärkungsgesetz sollen Psychotherapeuten künftig bei akuten Fällen auch ohne lange Wartezeiten vermehrt Erstgespräche führen. Derzeit würden die Konditionen dazu im Gemeinsamen Bundesausschuss, in dem Ärzte, Psychotherapeuten und Krankenkassen sitzen, verhandelt, sagte Kay Funke-Kaiser, Sprecher der Bundespsychotherapeutenkammer, der taz.

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