Autorin über die russische Gesellschaft: „Man kommt sich verdächtig vor“
Die Krim-Annexion hat in der russischen Gesellschaft Spuren hinterlassen. Die Autorin Alissa Ganijewa über Denunziation und Freundschaft.
taz: Frau Ganijewa, Sie leben und arbeiten in Moskau. Was hat sich in Russland seit der Annexion der Krim verändert?
Alissa Ganijewa: Eine Informationsblockade wurde verhängt und die ganze Gesellschaft ist in Alarmbereitschaft. Die Aggression der Anti-Maidan-Bewegung, die der Kreml gegen Proteste in Russland ins Leben rief, hätte ich vor einem Jahr für undenkbar gehalten. Und wer hätte ahnen können, dass Russland und die Ukraine Krieg führen werden. Darum ist die Vorstellung schrecklich, was für Krisenherde im Laufe des nächsten Jahres noch aufbrechen könnten. Denn das Feindbild wird weiter ausstaffiert. Wir bewegen uns auf sehr schmalem Grat.
Wie ist die Situation für Sie persönlich?
Es ist eine schlimme Zeit. Aber ich verzweifle noch nicht, sonst würde ich alles hinschmeißen. Wenn du auf einmal verstehst, dass du mit Freunden, die dir immer als vernünftig und gebildet erschienen, nicht mehr wie früher zusammen sein kannst, dann tut das sehr weh. Wir umschiffen Themen, weil es sonst Streit gäbe. Du möchtest den Freund ja nicht verlieren und versuchst, über irgendetwas anderes zu reden. Aber trotzdem dehnt sich die Leere um uns herum aus.
Hinzu kommt, dass Wladimir Putin Stimmung gegen seine politischen Gegner macht, er nennt sie „Landesverräter“. Fühlen Sie sich angesprochen?
Man fängt in solch einer Atmosphäre an, sich so zu fühlen und kommt sich selbst verdächtig vor. Denn angeblich liebst du die Heimat ja nicht und freust dich auch nicht, dass Russland sich „wieder von den Knien erhebt“.
Hat sich dieses Misstrauen gegen alles und jeden noch tiefer in die Gesellschaft hineingefressen?
Ja. Sobald jemand einen anderen Standpunkt vertritt als man selbst, ist er entweder bezahlt oder er schielt nach Eigennutz – so ist die gängige Meinung. Dass Nachdenken zu einer anderen Haltung verhelfen kann, glauben nur wenige. Die Mehrheit ist fest von dem überzeugt, was im Fernsehen erzählt wird. Das ist sehr gefährlich und droht in Fanatismus umzuschlagen.
Die Person: Geboren 1985 in Moskau, wuchs sie in Dagestan im Kaukasus auf. Ganijewa ist Schriftstellerin und Journalistin und arbeitet für die Literaturbeilage der Nezavisimaja Gazeta in Moskau.
Das Werk: Auf Deutsch erschien zuletzt ihr Roman „Die russische Mauer“ (Suhrkamp 2014). Ein neuer Roman kommt im Mai. Ganijewa veröffentlichte zahlreiche Essays, darunter in „Euromaidan: Was in der Ukraine auf dem Spiel steht“ (Suhrkamp 2014).
Gab es eine ähnliche Atmosphäre schon früher?
Mich beunruhigt unsere Tradition der Denunziation. Zu Sowjetzeiten war sie allgegenwärtig. Selbst der Hausmeister spitzelte ohne finanzielle Gegenleistung. Bespitzeln war einfach Pflicht und das veränderte die Moral. Dieser Boden ist auch heute noch fruchtbar. Als zum Beispiel das neue Gesetz zur doppelten Staatsbürgerschaft in Kraft trat, wurde sofort massenhaft denunziert. Da schrillen bei mir die Alarmglocken. Es hat den Anschein, als würde das genetisch vererbt, besonders bei Beamten, die sich beeilen, in der Öffentlichkeit zu lügen. Und das obwohl wir nicht mehr in den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts leben und niemand sein Leben riskieren muss.
Und gleichzeitig interessieren sich plötzlich wieder mehr Menschen für Politik. Ist das nicht auffällig?
Viele kümmern sich nach 25 Jahren erstmals wieder um Politik: Taxifahrer, Verkäufer, Friseure. Alle sprechen davon, wie Putin Russland rettet. Obwohl sich die wirtschaftliche Lage verschlechtert und die Preise steigen. Das schweißt die Menschen noch weiter gegen den „äußeren Feind“ zusammen. Schuld sind die Amerikaner. Niemand begreift, dass die Krise hausgemacht ist und nur zufällig mit den Sanktionen zusammenfiel.
Sie waren gerade in Deutschland und haben russische Emigranten getroffen, die seit Langem hier leben. Ist die Stimmung vergleichbar mit der in Russland?
Ich war perplex. In den 90er Jahren sind sie weggelaufen und jetzt unterstützen sie Putins Außenpolitik. Er hätte keine andere Wahl, als den USA die Stirn zu bieten. Die deutsche Propaganda im Fernsehen sei schlimmer als die russische, behaupten sie. Dabei haben sie hier die Auswahl zwischen Dutzenden verschiedenen Sendern, in Russland sind die alle gleichgeschaltet.
Seltsam, die Menschen flohen aus einer geschlossenen Gesellschaft und nahmen sie offensichtlich mit. Vielleicht haben sie vergessen, wovor sie weg liefen? Sie sind natürlich älter geworden und fern der Heimat verstärken sich patriotische Gefühle. Ich kenne das von Tschetschenen, die nach Europa übersiedelten. Sie wurden verbissenere Islamisten als jene, die zu Hause geblieben sind. In diesen kleinen, nicht assimilierten Gemeinschaften liegt eine riesige Gefahr.
Einst war Europa ein Hoffnungsträger für Russland, heute aber ist es ein Synonym für Sodom und Gomorra. Warum?
Europa ist in der stereotypen Vorstellung zu einer Kloake geworden, wo Frauen mit langem Bart herumlaufen. Orientieren wir uns dorthin, droht uns dasselbe! Dabei reisen viele nach Europa und sehen, dass keineswegs jeden Tag Gay-Paraden stattfinden. Wieder zu Hause dreschen sie trotzdem dieselben Phrasen. Die Offenheit der Grenzen befördert bei uns nicht Toleranz und Meinungsvielfalt.
Es sind vor allem Staatsbedienstete, die im Ausland Ferien machen und die Vorzüge des europäischen Systems erkennen. Entweder führen sie das Volk absichtlich hinters Licht oder sie sind selbst verwirrt. Und trotzdem schicken sie ihre Kinder zum Studieren in den Westen. Das ist ein weites Feld für Psychologen. Irgendetwas muss in den Köpfen während der Sowjetzeit kaputtgegangen sein, denn das ist ein gesellschaftliches Phänomen. Die Angepassten dominieren auch in der jungen Generation.
Wie wirkt sich die Abschottung gegenüber dem Westen auf die junge Generation aus?
Studenten, die aus den USA oder dem Westen zurückkehren, werden angeschaut, als wären sie schon von ausländischen Geheimdiensten angeworben. Bekannte, die sich für Stellen als Auslandskorrespondenten bei staatlichen Medien beworben haben, mussten Prüfungen wie beim Geheimdienst machen und haben deshalb verzichtet.
Die Annexion der Krim ist nun ein Jahr her. Ist die Begeisterung für deren Heimholung noch so stark wie am Anfang?
Sehr viele Emotionen sind im Spiel: die Kindheit, Meer, Strand, in den Ferien fühlten sie sich dort wie zu Hause. Es war für sie kein fremdes Land. Alle appellieren daher an das Menschliche und Persönliche, die rechtliche Seite wird ausgeklammert. Auch auf der Krim halten sie unter Tränen zu Russland, obwohl sich das Leben verschlechtert. Gesetz, Recht und Legitimität sind kalte und abstrakte Begriffe, von denen sich nur wenige in Russland angesprochen fühlen. Sie berühren die Menschen nicht. Es wird aber übersehen, dass auch das Volk betroffen ist, wenn jemand nach Laune Verträge bricht. Der Person ist nicht mehr zu trauen. Für Staaten ist es das Schlimmste, was passieren kann …
… Sie haben auch Freunde, die den russischen Krieg in der Ostukraine unterstützen. Wie erklären Ihre Freunde das?
Sie fahren dorthin, sehen Menschen sterben und wollen helfen. Wo sie waren, kamen Menschen durch die ukrainische Armee um. Dass nichts passiert wäre, hätte Russland sich nicht eingemischt, übergehen sie. Ursache und Wirkung werden vertauscht. „Aber es sterben doch Kinder!“ – mit diesem Argument wird die Frage nach den Schuldigen abgewürgt. Die Mission, das Brudervolk zu retten, hat etwas Heiliges und schmeichelt der Psyche. Das geht aber leider mit Obskurantismus einher und steigert den Unwillen nachzudenken.
Dazu passt, dass Russland inzwischen auf die Ukrainer schaut, als wären sie alle „Faschisten“. Wie sehen Sie das?
Das Verhältnis zu den Ukrainern ist auf lange Zeit vergiftet. Natürlich gibt es dort Faschisten, die es aber nicht einmal ins Parlament schafften. Bei uns findet dagegen jedes Jahr der „Russische Marsch“ statt – eine Demonstration faschistischer Gruppen. Davor verschließt man die Augen. Mit dem Faschismus hat sich die russische Gesellschaft nie auseinandergesetzt. Faschisten sind generell Feinde Russlands.
Bei uns gehört Antisemitismus zum Alltag. Wo man auch hingeht, wird genauestens auf deinen Familiennamen geschaut. Hass auf Kaukasier hat immer wieder Konjunktur. Die Hetze läuft seit Jahren und irgendwann fruchtet sie dann auch. Andererseits schickt der tschetschenische Präsident Ramsan Kadyrow seine früheren antirussischen Separatisten in die Ukraine, um das russische Imperium wiederzubeleben. Ist das nicht absurd?
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