Autorin über Tel Aviv unter Beschuss: Mein Kind singt heut Raketenlieder
So einen massiven Beschuss wie dieser Tage hat man selbst in Tel Aviv noch nicht erlebt. Eindrücke aus den Nächten im Bunkerraum.
Mein Kind singt heut Raketenlieder. Er steht mir im Wohnzimmer gegenüber, einen Ball aus Schaumstoff in den kleinen patschigen Händen, und singt: „Raketenalarm brauchen wir nicht, wir wollen nur Raketen aus dem All. Die Bösen dürfen nicht zu uns. Nur Raketen aus dem All.“
Ich fange den Ball auf und schaue ihn besorgt an. Er wirkt fröhlich. Er ist so ein kleines Kämpferkind. Einer, der nie nachgibt und nie verhandelt, Kopf durch die Wand und so. Aber dass er das jetzt singt, das kann doch nicht gesund sein.
Er ist vier. Ich nenne ihn seit seiner Geburt „meine Rakete“, weil er damals so schnell herauskam, dass ich nicht mal mehr Zeit hatte, eine PDA zu bekommen. Wir haben deshalb viele Raketenbücher. Ich nenne ihn auch gerne meinen „Israeli“, weil mein anderer Sohn, 7, so ordentlich, ruhig und rücksichtsvoll „deutsch“ ist und der Kleine eben eher Chaos, höchst unterhaltsam und warmherzig, „israelisch“. Und jetzt steht er hier und versucht zu verstecken, wie viel Angst er eigentlich hat. Und brüllt sein Raketenlied umso lauter. Ich verstehe ihn. Auch ich verstecke meine Angst.
Katharina Höftmann Ciobotaru, 1984 in Rostock geboren, lebt mit ihrer Familie in Tel Aviv. Sie ist freie Journalistin und Autorin mehrerer Kriminalromane und Sachbücher. Soeben erschien ihr erster literarischer Roman „Alef“ im Ecco-Verlag (416 Seiten, 22 Euro).
Als in dieser Woche zum ersten Mal seit langer Zeit wieder mal die Sirenen heulten und wir uns im Bunkerraum einsperrten, der immerhin praktischerweise auch das Schlafzimmer unserer Kinder ist, da war die Angst noch klein. Ich kenne diese Raketenalarme. Ich lebe seit 2010 in Tel Aviv, ich habe alle möglichen Kriege mitgemacht. Als 2014 das letzte Mal so richtig viele Raketen über unsere Köpfe flogen, saß ich mit meinem erstgeborenen Baby im Arm im Bunker. Allein, weil mein Mann als Major in Reserve eingezogen worden war. Und ja, das war unheimlich, aber noch unheimlicher waren die „Juden ins Gas“-Demonstrationen in Berlin.
Damals wie auch später schoss die Hamas ein, zwei, vielleicht eine Handvoll Raketen gleichzeitig. Nichts, was der Iron Dome nicht mit Leichtigkeit abfangen könnte. Aber diese Mainacht vor ein paar Tagen war anders. Das wurde uns schnell klar. Das ganze Haus schien zu wanken, es ächzte und rumpelte, überall knallte es und die Explosionen hörten gar nicht mehr auf. Auf die eine Sirene folgte die nächste, und dann noch eine. Wir blieben im Bunker. Eine gute halbe, dreiviertel Stunde.
Die Panikattacke rollt an
Ich habe so etwas noch nie erlebt, sagte auch mein Mann. Und der war immerhin schon beim Golfkrieg dabei. Er wollte Händchen halten, ich nur mich selbst. Ich versuchte die Panikattacke abzuwehren, von der ich spürte, dass sie anrollte. Bloß nicht laut sein, bloß nicht die Kinder aufwecken. Atmen, ein und aus. Und dann beten. Ich bin zwar vor vielen Jahren zum Judentum übergetreten, aber ehrlicherweise kein großer Beter. Und plötzlich höre ich mich das Schma Israel sagen. Immer wieder. Die Kinder schlafen. Auch dafür bedanke ich mich bei G-tt.
Bei den nächsten massiven Angriffen nachts um drei haben wir nicht so viel Glück. Die Kinder wachen beide auf. Und mein kleiner „Deutscher“, der beim letzten großen Krieg noch ein Baby war, stellt nun viele Fragen. Das heißt, eigentlich immer nur eine, immer wieder: Warum schießen die auf uns?
Ich schaue auf den Boden und spüre trotzdem, wie er mich mit großen Augen ansieht. Im Dunklen kann man seine schönen großen braunen Augen nicht sehen. Ich denke, wenn die da drüben, die in Gaza, seine schönen braunen Augen jetzt sehen könnten, so voller Angst, dann würden die doch keine Raketen mehr schießen. Was natürlich kompletter Unsinn ist, so funktioniert Krieg ja nicht. Aber wenn man so verzweifelt mitten in der Nacht in einem stickigen dunklen Zimmer sitzt, die verschwitzen Kinderhände in den eigenen, denkt man solche Sachen eben. Da ist man nicht voller gut sortierter Gedanken.
Dank für den Iron Dome
Da kann man nicht mehr analysieren, dass mit dem Iron Dome, der ja wirklich ganze neunzig Prozent der Raketen abfängt, und noch dazu in einem Bunkerraum sitzend, der dafür gemacht ist, dass eine Rakete nicht durchs Metall dringen kann, die Todesgefahr eigentlich recht gering ist. Bessere Chancen als beim Autofahren hat man da auf jeden Fall. Aber all das zählt eben nicht, wenn sich die Sirene im Gehirn verirrt und dieses Heulen nicht mehr rauskommt.
Ich drücke die Kinderhand und sage schließlich: „Aber weißt du, wir dürfen nicht vergessen, da in Gaza sitzen jetzt auch kleine Kinder im Dunklen. Und die haben genauso viel Angst wie du. Und die haben nicht mal einen Bunker oder ein Raketenabwehrschild.“
Meine Söhne schlafen irgendwann wieder ein. Ich liege wach und lausche ihren leisen Schlafgeräuschen. In solchen Momenten denke ich immer, vielleicht sollten wir doch lieber in Deutschland leben. Wie ruhig und grün wir es dort hätten. Aber dann fallen mir all die Hassnachrichten ein, die meine jüdischen Freund*innen in Deutschland gerade bekommen. Und ich habe nun einmal eine jüdische Familie. Ja, eine israelische.
Die Vielfalt lieben
Wir lieben unser Leben hier, wir lieben unser Wetter, wir lieben unsere Menschen, wir lieben unsere Vielfalt. Wir lieben, dass wir hier wir selbst sein können und, ja auch, dass es eine Armee gibt, die uns als Jüdinnen und Juden wirklich schützt. Und wir müssen doch auch hier bleiben, damit das hier nicht alles völlig vor die Hunde geht. Wenn wir alle abhauen, all die, die ein normales Angstverhalten zeigen, dann bleiben vielleicht nur noch die Verrückten. Und die erzählen ihren Kindern bestimmt nicht, dass ja auch in Gaza Kinder leben, die jetzt große Angst haben.
Über diesen Gedanken schlafe ich irgendwann ein. Unterm Strich schaffe ich es in dieser Nacht vielleicht auf drei Stunden. Am nächsten Morgen scheint die Sonne in mein unendlich erschöpftes Gesicht und wir leben weiter. Machen Wäsche, den Abwasch, spielen und lesen. Wir leben weiter, denn etwas anderes können wir nicht tun.
Das hier ist nun einmal unsere Heimat. Und irgendwann, das hoffe ich, wird der Kleine wieder seine gewohnten Lieder von Elefanten und Traktoren singen. Irgendwann, wenn der Krieg vorbei ist und Raketen wieder aus dem All kommen.
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