Autorin über Identitätskonzepte: „Das ist magischer Realismus“
Ultralustig erzählt Mithu M. Sanyal in ihrem Debut-Roman „Identitti“ von der Tragödie, in Deutschland „mixed race“ zu sein.
taz: Frau Sanyal, sind Identitätsdiskurse immer fake?
Mithu Sanyal: Oha. Nein. Ja. Also ganz klassisch-postmodern: Jein.
Wie soll ich das jetzt verstehen?
Natürlich haben wir alle nicht die eine feste Identität, die man irgendwo finden könnte draußen in der Welt – nach dem Motto man ist sie und man hat sie. Identität ist natürlich immer konstruiert, aber nicht zwangsläufig falsch: Auch die Masken, die wir tragen, machen uns zu den Menschen, die wir sind.
In Ihrem Roman „Identitti“ nutzt die Professorin Saraswati das fluide postmoderne Identitätskonzept aus, um ein identitätspolitisches Spiel aus einem Bereich der Unentscheidbarkeit zu treiben. Ist das der Ort, an dem wir uns befinden?
Ja. Wir sind immer in einem Bereich der Unentscheidbarkeit. Aber …!
50, Autorin hat nach Sachbüchern mit „Identitti“ 2021 ihren ersten Roman vorgelegt. Zuvor waren von ihr „Vergewaltigung – Aspekte eines Verbrechens“ und ihre Doktorarbeit „Vulva – Enthüllung des unsichtbaren Geschlechts“ erschienen.
Aber?
Ich glaube, es geht genau darum, dieses große Aber auszuloten. Das besteht im Kern darin, dass bestimmte Menschen sich Dinge freier aussuchen können als andere, so wie Nivedita.
… die zweite Hauptfigur des Romans?
Die eigentliche Hauptfigur, würde ich sagen. Sie ist eine Person, der von außen eine Identität zugeschrieben wird. Und sie selbst hat immer das Gefühl, sie wäre nicht authentisch genug indisch, nicht authentisch genug deutsch. Ihre Mutter kommt ja noch dazu aus Polen. Zugleich sehen wir, gerade, wenn wir uns historische Verhältnisse anschauen, dass bestimmte Menschen fest in ihre Identität hineingepackt werden. Und universell sein war sehr lange gleichbedeutend mit weiß sein. Deshalb ist es ja so ein wunder Punkt, was Saraswati macht.
Sie ist als Forscherin Teil der Dekolonialisierungs-Strömung, und gibt sich, obwohl weiß, als Woman of Color aus.
„#transracial?! Identitätspolitik und kulturelle Aneignung in Mithu Sanyals Roman Identitti“, online-Lesung, Zentrum Gender & Diversity, Uni Hamburg, 18. 1., 20 Uhr
Literatour Nord: Mithu M. Sanyal, Lesung und Gespräch, Theater Bremen, 19. 1., 20 Uhr
Ja, und wenn die Welt eine andere wäre, als sie ist, wäre das natürlich völlig egal. Denn: Mein Gott, was ist konstruierter als race? Geschlecht hat ja zumindest noch irgendwelche realen Bezugspunkte, aber „race“ ist ja komplett konstruiert!
… wirkt aber auf seltsame Weise identitätsbildend: Dabei verhandeln Sie Fragen, die bisher in der amerikanischen Philosophie, etwa bei Linda Martín Alcoff als, ähm, als „Mestizo Identity“ verhandelt wurden…?
Das ist das Thema von Nivedita. Und dafür gibt es in Deutschland kein Konzept. Wir haben noch nicht einmal ein Wort dafür. Naja, genau genommen haben wir natürlich Worte dafür, die aber allesamt hochgradig rassistisch sind.
Oh ja, ich habe mir beim Versuch, es zu sagen, gerade auch schon einen abgestottert.
Es ist schwierig. Und auch die Worte, die ich verwende, werden wir in fünf Jahren wahrscheinlich auch nicht mehr verwenden. Sprache muss immer auch den Ist-Zustand beschreiben. Und der Ist-Zustand ist ein schwieriger.
Komplex genug für einen Roman also?
„Identitti“ ist ein Buch darüber, „mixed race“ zu sein. Die Figur Saraswati ist entstanden, als ich von diesem ähnlichen realen Fall in den USA gehört hatte – Rachel Dolezal, die eine Schwarze Bürgerrechtsaktivistin und Uni-Dozentin war. Und dann kam raus: Oh, sie ist aber in Wirklichkeit Weiße. Da dachte ich: Perfekt, ich kann diesen Fall nehmen und nach Deutschland transponieren und mit ihm genau die Geschichte erzählen, die schon vorher in meiner Hauptfigur drin waren.
Sie schreiben aber nicht über Dolezal selbst?
Nein, gar nicht. Es ist auch kein Buch darüber, ist es richtig oder falsch was Saraswati gemacht hat? Sie dient stattdessen als der Katalysator, mit dem ich Niveditas Geschichte erzählen kann: Was bedeutet es, zwischen den Stühlen zu sitzen, was heißt es, dass man Ausdrücke wie „halb-Indisch“ nutzt und nicht etwa „doppelt“, warum muss es weniger sein und nicht mehr? Welche Hälfte wäre denn indisch? Die rechte? Die linke? Ist doch Quatsch!
Aber gebräuchlich.
Es ist ganz klar ein Relikt der Rassentheorie, das immer auch eine Pathologisierung bewirkt, eine Wahrnehmung als weniger gut, als weniger stabil. Als meine Mutter mit mir schwanger war, wurde ihr noch gesagt: Passen Sie auf, diese Kinder neigen mal eher zu psychischen Problemen. Weshalb wir das „Mixed-Race“-Sein auch nicht feiern konnten. Das ist mein Thema.
Neben der fast schon unheimlichen Fähigkeit dieser pseudo-indischen Professorin, Realität durch Sprache zu manipulieren, ragt unsere wahre Wirklichkeit in die Fiktion hinein, etwa wenn sich real-existierende taz-Kolumnistinnen am fiktiven Twitter-Shitstorm gegen die enttarnte Saraswati beteiligen. Warum war das wichtig?
Das hat mehrere Gründe. Einmal ist die Geschichte ja so abgefahren: Die Hauptfigur unterhält sich die ganze Zeit mit einer Göttin und die greift dann auch noch mehr und mehr in die Handlung ein, also das ist schon magischer Realismus. Deswegen war mir wichtig, dass dieser Roman ansonsten tausendprozentig fest in der Realität verwurzelt ist. Und dann wollte ich diese Vielstimmigkeit haben, also nicht bloß unterschiedliche Meinungen, sondern auch diese unterschiedlichen Positionen in der Debatte und im Internet abbilden und diese unterschiedlichen Stile.
Die haben Sie imitiert?
Nein! Ich habe Leute gefragt, die viel zu diesen Themen in sozialen Medien tweeten, und dachte: Super, die schreiben was für mich, und das spart mir Arbeit.
Wie praktisch!
Ja von wegen. Es war natürlich viel aufwendiger, als es selbst zu schreiben: Ich musste ja alles erklären. Das Buch war ja noch gar nicht da. Also hat jeder dieser Tweets viel Energie gekostet. Aber das ist es auch wert. Sie gehören mit zu meinen Lieblingspassagen im Buch. Und zwar weil sie nicht nur alle einen völlig neuen Blick auf das Thema hatten, sondern es auch mit einer völlig anderen Sprache gemacht haben, als ich das gekonnt hätte.
Das war nicht abgesprochen?
Gar nicht. Ich hatte denen jeweils gesagt: Schreib etwas so, wie du es schreiben würdest, wenn du nachts über so einen Fall lesen würdest. Möglichst unreflektiert, direkt aus dem Bauch heraus. Und ich bin noch immer total bewegt von der Großzügigkeit der Tweet-Spender*innen, die ich ja auch gar nicht alle persönlich kannte, und die mitgemacht haben, weil ihnen die Idee gefiel.
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