Autorin Peggy Parnass über NS-Prozesse: „Der Hass ist geblieben“
Vor 50 Jahren endete der erste Auschwitz-Prozess, im Juli der wohl letzte. Peggy Parnass, deren Eltern im KZ ermordet worden, ist wütend, dass es nur so wenige gab.
taz: Frau Parnass, Sie haben als Gerichtsreporterin über 500 Prozesse besucht. Nur drei davon galten Nazi-Tätern. Warum so wenige?
Peggy Parnass: Weil die meisten Beteiligten – die professionellen Juristen – selber Nazis waren. Oder ihre Eltern, Großeltern, Onkel und Tanten waren Nazis, und die wollten sie nicht reinreiten. Und die wenigen Juristen, die Antifaschisten waren und Täter vor Gericht stellen wollten, wurden von ihren Kollegen gejagt – einige bis in die Psychiatrie.
War das Fehlen von NS-Prozessen auch Ausdruck einer gesamtgesellschaftlichen Gesinnung?
Natürlich waren nicht nur die Juristen Ursache für die wenigen Prozesse. Aber die Juristen hatten und haben Macht.
Sind Sie wegen der NS-Prozesse Gerichtsreporterin geworden?
Das war der einzige Grund. Es war mir nicht wichtig, selber zu schreiben. Ich wollte eine ganz andere Karriere machen – als Schauspielerin. Damit hatte ich gerade angefangen, die wenigen Sachen, die ich machte, wurden preisgekrönt, und es sah gut aus.
Aber?
Ich habe denen, die mich als Schauspielerin interviewten, immer gesagt: Geht lieber ins Gericht. Da müsst ihr was verändern, damit realistisch berichtet wird. Irgendwann sagte eine Journalistin von der Frankfurter Rundschau: „Wenn es dir so wichtig ist, geh doch selber hin.“ Ich habe der Redaktion dann eine Woche lang täglich telefonisch meine Prozess-Eindrücke durchgegeben. Aber die wollten nur Fakten. Also ging ich zu Konkret und dachte, ich schreib ein-, zweimal gründlich, dann kann ich weiter spielen. Nur – da gab es keine NS-Prozesse. Ich saß sofort in anderen Prozessen, die mich auch interessierten. Es ging ja immer um Leben, um Menschen.
in Hamburg geborene Jüdin, kam 1939 als Kind zusammen mit ihrem Bruder per Kindertransport nach Stockholm. Sie studierte in Stockholm, London, Hamburg und Paris, ist Schauspielerin, Kolumnistin, Autorin und Übersetzerin. 17 Jahre schrieb sie Gerichtsreportagen für die linke Zeitschrift Konkret. Ihre Eltern wurden von den Nazis im Vernichtungslager Treblinka ermordet.
Was genau wollten Sie über die Nazi-Täter wissen?
Gar nichts Besonderes – aber ich wollte anders schildern. Ich wollte die Angeklagten so zeigen, wie sie wirklich waren: was sie wie sagten und in welcher Verfassung sie waren. Denn es gab ja einen Riesenunterschied zwischen den Verfolgten, die überlebt hatten, und den Tätern. Die Zeugen waren kaputt, die Täter nicht.
Entsprechend wurden sie vor Gericht behandelt.
Ja. Die Täter waren nach wie vor geachtet und respektiert. Die Zeugen waren unansehnlich. Sie waren körperlich und seelisch vernichtet. Manche weinten sogar. Das wurde nicht gern gesehen. Das sollten sie lieber mit sich abmachen und nicht öffentlich zeigen, wie es ihnen ging – auch nach so vielen Jahren. Denn die wenigen NS-Prozesse fanden ja nicht kurz nach der Tat statt, sondern nach 20, 30 Jahren. Bis dahin hatten die Mörder und Massenmörder gemütlich gelebt.
Wie haben Sie es ertragen, bei dessen Prozess mit dem Massenmörder Ludwig Hahn zu sprechen?
Äußerlich immer völlig ruhig, ich wollte ja was rauskriegen, da konnte ich ihn nicht anschreien. Innerlich war ich aber immer am Zerplatzen, das hat mich zerrissen und fertig gemacht.
Haben Sie je an Rache gedacht?
Ja. Schon als Kind habe ich immer gedacht: Sobald ich erwachsen bin, räche ich mich.
Haben Sie es versucht?
Ja, an einer Milchfrau. Als ich noch klein war, wollte Mutti einmal für uns Kinder Milch kaufen. Da hat die Milchfrau Mutti verprügelt und rausgeschmissen. Ich konnte Mutti nicht helfen und fühlte mich schuldig, es war unerträglich. Als ich die Frau nach elf Jahren aufsuchte, dachte sie zuerst, Mutti stünde vor ihr. Als sie begriff, dass ich das Kind bin, sagte sie: „Ach, deine Mutter, diese liebe, liebe Frau! Wie oft muss ich an sie denken!“ Sie war geschrumpft und alt geworden, und ich konnte nichts sagen oder tun. Mich zu rächen – das wäre wie ein Nach-unten-Treten gewesen. Und ich kann jemandem, der schwächer ist als ich, nichts tun.
Was wurde aus Ihrer Wut?
Die blieb. Dazu kam ein großer Ekel. Es hat mir nicht gut getan, dass aus der Rache nichts wurde. Denn der Hass ist ja geblieben.
Sie sagen, Sie können Schwächeren nichts tun. Soll man greisen Nazi-Tätern den Prozess machen?
Ja. Denn etwas wird dadurch hör- und sichtbar gemacht, zumal die Presse die Täter inzwischen nicht mehr in Schutz nimmt.
Aber was hat der jüngste Lüneburger Prozess gegen den 94-jährigen Oskar Gröning gebracht?
Ich weiß nicht, wie er gelebt hat, wahrscheinlich ein normales, gutes Leben. Aber mich interessiert der Vorschlag der überlebenden Jüdin Eva Kor. Sie möchte, dass sich Gröning vor Schulklassen, auch vor junge Nazis, stellt und sagt: „Ja, es gab den Holocaust, ich habe mitgemacht, ich bin Zeuge.“ Damit niemand mehr sagen kann, die Juden denken sich das alles aus. Ich finde ihre Idee sehr gut, und wünschte, man würde sie in die Tat umsetzen.
Wie können Sie damit leben, dass NS-Täter so spät und milde abgeurteilt wurden – wenn überhaupt?
Damit kann ich gar nicht leben. Ich kann nur leben, weil ich meinen Bruder Gady, der vier war, als wir mit einem Kindertransport von Hamburg nach Stockholm kamen, so sehr liebe. Und weil ich immer wunderbare Freunde hatte – ehemalige Widerstandskämpfer, die immer im Widerstand blieben. Auch meine Tante Flora und ihr Mann Rudi waren auf jeder Demo. Meine Tante Flora, die leider nicht miterlebt hat, dass jetzt die Straße neben ihrer alten Hamburger Schule nach ihr benannt wurde – in Flora-Neumann-Straße.
Hätte ihr das geholfen?
Nein. Sie hatten ja Glück, wenn sie nach dem Krieg nicht nochmal im Knast landeten – als Linke, als Kommunisten. Gedankt wurde ihnen schon mal gar nicht, im Gegenteil: Sie wurden im Grunde immer weiter als Staatsfeinde betrachtet. Sie, die ihr Leben für uns riskierten. Ausgezeichnet und gelobt wurden und werden hier ganz andere.
Zum Beispiel mit staatlichen Orden.
Ja, und deshalb wollte ich mein Bundesverdienstkreuz erst ein Jahr lang nicht annehmen. Ich habe auch keinen Antrag auf „Wiedergutmachung“ gestellt. Allein das Wort ist eine Unverschämtheit! Den Antrag hat dann meine Tante Berti, die wegen ihres nichtjüdischen Manns überlebte, für mich eingereicht. Ich bekam fünf Mark – 2,50 Euro – für jeden Hafttag meiner Eltern, die im KZ Treblinka umgebracht wurden. Ekelhaft!
Sind Sie eigentlich bewusst wieder nach Hamburg gezogen, wo Sie vor dem Holocaust mit Ihren Eltern lebten?
Nein. Ich war auf der Durchreise, suchte ein Bleibe für mich und mein Baby und bin dann hier hängen geblieben.
Wie ertragen Sie es, wieder in Deutschland zu leben?
Kann ich es ertragen, überhaupt weiterzuleben? Das konnte ich nicht immer. Als Kind wollte ich oft sterben, dann wieder kämpfen. Denn eigentlich lebe ich ja sehr gern. Der Gedanke an Tod ist für mich ein Albtraum! Wobei ich zwischendurch denke, dass ich mich gern ertränken würde – natürlich im Meer.
Haben Sie eigentlich je herausbekommen, wie es Ihren Eltern ergangen ist?
Ja. Viel später. Ein Bekannter aus Hamburg, der als Soldat in Polen war, hat mir erzählt, dass er die beiden an einer Straßenecke in Warschau betteln gesehen hatte. Ich habe auch Fotos, auf denen sie im Warschauer Getto Suppe verteilen. Als das noch war. Dann dachten wir immer, dass sie in Auschwitz umgebracht wurden. Aber ihre Namen standen nicht – wie die aller in Auschwitz Ermordeten – in der Jerusalemer Gedenkstätte Yad Vashem. Als ich den Leiter darauf ansprach, sagte er: Wann kam das letzte Lebenszeichen? Ich nannte den Tag, an dem ich fünf Postkarten meiner Eltern bekommen hatte. Da sagte er: An dem Tag wurden alle ins KZ Treblinka gebracht und sofort ermordet. Meine Albtraumvorstellung ist, dass man meine Eltern auseinandergerissen hat. Meine Lieblingsvorstellung, dass sie sich wenigstens umschlungen und geküsst haben bis zuletzt.
Den ganzen Schwerpunkt über die Nazi-Prozesse und die Frage der Verjährung lesen Sie in der gedruckten Norddeutschland-Ausgabe der taz.nord oder hier.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Müntefering und die K-Frage bei der SPD
Pistorius statt Scholz!
Krieg in der Ukraine
Russland droht mit „schärfsten Reaktionen“
Israel demoliert beduinisches Dorf
Das Ende von Umm al-Hiran
Angeblich zu „woke“ Videospiele
Gamer:innen gegen Gendergaga
Haldenwang über Wechsel in die Politik
„Ich habe mir nichts vorzuwerfen“
Israelis wandern nach Italien aus
Das Tal, wo Frieden wohnt