Auszeichnung für Debütroman: Parforceritt durch die DDR-Geschichte
Das literarische Jahr beginnt mit einem Blick zurück: Für ihren Roman "Machandel" erhält die Schriftstellerin Regina Scheer den Mara-Cassens-Preis 2014.
HAMBURG taz | Clara bleibt zu Hause. Bleibt bei den Kindern, behütet ihren Schlaf, die doch verwirrt genug sind über das, was um sie herum passiert. Und sie geht nicht mit den anderen mit, die nicht glauben können, was sie eben im Fernsehen gesehen haben: Dass die Mauer geöffnet sein soll; dass man einfach so rüberwechseln kann von Ost- nach Westberlin.
Und so folgen keine lautstarken Jubelszenen auf der Bornholmer Straße, keine fahrigen Umarmungen mit noch eben Wildfremden – es bleibt vielmehr einfach still und dunkel und ruhig in der Wohnung von Clara und ihrem Mann Michael. Dort, wo sich ihre Freunde in den letzten Monaten unter der Beobachtung durch die Stasi immer wieder und bald immer öfter getroffen haben; wo auch die Kinder von Herbert und Maria Unterschlupf gefunden haben, die selbst erst verhaftet, dann ausgebürgert worden sind.
Innehalten statt los rennen, sich Erschöpfung zugestehen, statt sich in weitere Aktivitäten zu flüchten, dafür entscheidet sich Clara ohne groß nachzudenken – eine Schlüsselszene in dem Debütroman „Machandel“ von Regina Scheer. Nun wird Scheer für diesen Stoff mit dem renommierten Mara-Cassens-Preis des Literaturhausvereins Hamburg beehrt – sehr, sehr zu Recht, wie die Lektüre schon nach wenigen Seiten zeigt.
Hell und geruchlos
Machandel? Erst einmal niederdeutsch für: Wacholder. Name eines Wacholderschnapses auch, der hell und zunächst geruchlos sein soll. Und auch ein Name für ein fiktives Dorf irgendwo im Mecklenburgischen. Hier leben sie, hier treten sie an – Scheers Helden und Heldinnen. Leben ihr Leben, hadern mit diesem, erklären es sich, versuchen es zu ändern – und geben am Ende Rechenschaft ab, ohne sich zu rechtfertigen. Erzählt wird so nicht Geringeres als das Leben eines Staates, der „DDR“ hieß und dessen langjährige Existenz einem heute manchmal so fern wie rätselhaft anmutet.
In Machandel finden sie Zuflucht, erhoffen sie sich Erholung, die Ostberliner Großstadtbürger Clara und Michael. Hier mieten sie sich Mitte der 80er-Jahre eine kleine Sommerkate, die sie später kaufen werden, die sie anfangen auszubauen, die aber nie fertig werden wird – was passt: Denn wenn ein Rückzugsort perfekt ist, schützt er einen dann noch?
Es gibt wunderbare, nahezu elegische Passagen, wo man beim Lesen durch Regina Scheers erschaffenes Machandel mit seinem verfallenden Schloss und seinen geduckten Landarbeiterhäuschen wie durch ein reales Dorf schlendert, dem man unbedingt einen Fahrradausflug widmen will. Und es gibt fast protokollarische Sequenzen aus Scheers Ostberlin, in denen etwa der Zusammenbruch der DDR ab 1988 so nüchtern wie exakt skizziert wird: von den ersten Fürbitteandachten in der Gethsemanekirche über den Gründungsaufruf des Neuen Forums bis zu den letzten Volkskammerwahlen und dem Ende, wie wir es zu kennen meinen.
Dazwischen ein Parforceritt durch die Geschichte: Wir lesen vom Niedergang der Weimarer Republik, vom Widerstand der Kommunisten gegen den aufkommenden Faschismus, von den Prozessen 1936 in Moskau gegen die angeblichen Abweichler; dann das Kriegsende, der Flüchtlingsstrom aus dem Osten, schließlich die Bodenreform; die folgenden mühsamen Aufbaujahre, erste Zeichen von erstem Wohlstand, von politischer Lockerung; dann der Einmarsch 1968 in Prag, die darauf folgenden bleiernen Jahre, der allmähliche Niedergang der Wirtschaft: „Ich wollte über das Ende der DDR erzählen und das kann ich nur, wenn ich auch über die Anfänge rede“, sagt Regina Scheer.
Fakten mit erzählerischem Potenzial
Dass ihr dies so außerordentlich gut gelingt, dürfte an der ersten Profession der Regina Scheer liegen: Sie ist Historikerin, damit erfahren und geübt im Umgang mit Fakten und den erzählerischen Potenzialen, die in ihnen verborgen liegen. Zugleich hat sie sich bei ihrem literarischen Debüt für ein spannendes Verfahren entschieden, denn sie lässt ihre Helden einzeln und je für sich wie an den Rand der Weltbühne treten und ihre Sicht der Dinge erzählen:
Da ist vorneweg Clara, die eher kommentierende Beobachterin, die inmitten wachsender politischer Repression zu einem niederdeutschen Volkslied promoviert und die ihre Familie zusammenzuhalten versucht. Da ist Natalja, die ehemalige Zwangsarbeiterin, die nicht zurückgeht in die Sowjetunion, die daher in Machandel bleibt, lebenslang fremd und integriert zugleich. Da ist Emma, die es nach den Bombenangriffen im August 1943 auf Hamburg nach Machandel verschlägt und die sich dort wildfremder Kinder annimmt. Da ist Herbert, der sich vom Nachwuchskader der Nationalen Volksarmee Schritt für Schritt zum Oppositionellen wandeln wird.
Mehr tot als lebendig
Und da ist nicht zuletzt Claras Vater Hans, Häftling in Neuengamme, Häftling in Sachsenhausen. Der mehr tot als lebendig zurückkehrt, der aufsteigt in die Führungsriege der DDR und der zugleich viel Kraft aufbringen muss, um die Zweifel an der Unfehlbarkeit seiner Partei und noch mehr ihrer Politik stoisch niederzuringen und der am Ende verstummt zurückbleibt. Dass so dezent, aber spürbar auch ein Generationenkonflikt Thema wird, liegt für Regina Scheer auf der Hand: „Es liegt an der Zeit, dass wir nicht mehr so jungen Kinder der DDR-Gründer uns mit ihnen beschäftigen.“
Mit großem Gewinn für sie als Autorin: „Die Parteifunktionäre wie es der Hans einer ist, haben uns das Leben schwer gemacht, sie haben uns jeden Weg versperrt – und ich hatte eine große Wut. Aber ich muss sagen: Schreiben ist eine wunderbare Möglichkeit, negative Gefühle sich auflösen zu lassen, denn man muss ja gerecht sein; man muss seinen Figuren eine Herkunft geben und Gründe, warum sie so geworden sind.“
Die Jury des Mara-Cassens-Preises, bestehend aus 15 Mitgliedern des Hamburger Literaturhausvereins, die jedoch nicht beruflich mit dem Literaturbetrieb verbandelt sein dürfen, hat schon mehrfach ein Händchen für komplexe Familienromane bewiesen, in denen politische Umwälzungen und scheinbar individuelle Lebensläufe so aufklärend wie belebend und auch schlicht unterhaltend ineinander greifen:
Im letzten Jahr wurde Sarah Strickers Roman „Fünf Kopeken“ ausgezeichnet, der uns anhand der Lebensgeschichte einer Mutter vom Rheinland der Bonner Republik hinüber in das aufgewühlte Berlin der Jahre nach 1989 führt. Zuvor erhielt Sabrina Janisch den Preis für ihr Debüt „Katzenberge“, in dem sie ihre Heldin nach dem Tod ihres Großvaters nach Niederschlesien schickt, wo diese auf die Flucht- und Vertreibungsbewegungen zwischen Deutschland, Polen und der Ukraine stoßen wird.
Unbedingte Empfehlung
Nun liegt mit „Machandel“ die nächste unbedingte Empfehlung vor für alle, die sich gerne Geschichte in Geschichten erzählen lassen, auf dass aus den Geschichten Geschichte einsehbar wird. Wenn man sich übrigens dabei ertappt, dass man zum Ende hin nicht mehr so hastig durch die Seiten fliegt, dass man langsamer liest, dass man das Ende des Buches immer mehr hinauszögert, dann liegt man gleichfalls richtig: „Machandel“ ist einfach schön erzählt – und wer will schon, dass etwas Schönes schnell vorbeigeht.
■ Preisverleihung: 8. Januar, 19.30 Uhr, Literaturhaus Hamburg, Schwanenwik 78
Regina Scheer: „Machandel“, Knaus Verlag 2014, 480 Seiten, 22,99 Euro
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