piwik no script img

Auswirkungen der Kennzeichnungspflicht"Das ist ein wichtiger Baustein"

Ohne Kennzeichnung gibt es keine Verantwortung, sagt die Psychologin Birgitta Sticher. Sie unterrichtet Polizeibeamte in Führungslehre.

taz: Frau Sticher, Sie unterrichten Polizistinnen und Polizisten in Psychologie und sind eine Verfechterin der individuellen Kennzeichnung. Warum?

Birgitta Sticher: Mir geht es dabei vor allem um die Gruppen der geschlossenen Einsatzhundertschaften. Die Beamten stecken alle in den gleichen Einsatzanzügen und Helmen. Von außen sind sie als Individuum nicht mehr klar erkennbar. Diese Außenwahrnehmung führt auch zu einer veränderten Innenwahrnehmung. Der Effekt wird in der Psychologie als Deindividuation bezeichnet. Das Individuum tritt hinter der Gruppe zurück und ist als solches nicht mehr erkennbar.

Was ist die Folge?

Die Beamten empfinden das im positiven Sinne als Schutz. Der Einzelne verschmilzt mit der Gruppe, die untereinander solidarisch sein muss. Im negativen Sinne kann die Selbstkontrolle und die Verantwortung, die man als Individuum für sein Verhalten übernimmt, sich deutlich verringern. Die Verantwortung wird an den Befehlsgeber abgegeben. Es wird nicht mehr so kritisch reflektiert, was und warum man etwas tut. Wenn dann noch das Gegenüber einheitlich negativ gesehen wird …

zum Bespiel Demonstranten des autonomen schwarzen Blocks?

Genau. Dann kann die Dynamik entgleisen. Die Grenze der Gewalt, die Polizisten in bestimmten Situationen legitim einsetzen müssen, kann überschritten werden.

Ein Name oder eine individuelle Nummer könnte das verhindern?

Es wäre ein wichtiger Baustein. Aber das Ganze ist ein Prozess. Meiner Meinung nach muss das gesamte Gruppenverhalten viel stärker in der Polizeiausbildung reflektiert werden. Dies tut zum Beispiel der amerikanische Sozialpsychologe Philip Zimbardo. Er hat anlässlich der Folterprozesse um die Vorkommnisse in dem amerikanischen Militärgefängnisses Abu Ghraib nahe Bagdad das Buch "Der Luzifer-Effekt" geschrieben. Das Buch hat in den USA sehr viel an Reflexion in die Wege geleitet.

Was bedeutet "Luzifer-Effekt"?

Dass aus einem Engel ein Teufel werden kann. Dass sich ganz normale Menschen - sogar Leute mit den besten Beurteilungen - in bestimmten Situationen grundlegend anders verhalten können. Zimbardo hat versucht, die Mechanismen nachzuvollziehen.

Dem Spruch der Einigungsstelle zufolge können die Polizisten selbst entscheiden, ob sie einen Namen oder eine Nummer tragen wollen. Was ist Ihre Meinung?

Wichtig ist, dass der Einzelne erkennbar ist und für seine Handlungen Verantwortung übernehmen muss. Das ist beim Namen wie auch bei einer Nummer der Fall.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare

Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

Wir machen Silvesterpause und schließen ab Montag die Kommentarfunktion für ein paar Tage.
  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!