Ausstellung in Istanbul: Die Frau ergreift das Wort
In Istanbul wird die Künstlerin Melek Celâl in einer Schau wiederentdeckt. Ein Werk im Zeichen der Emanzipation, wie sie die türkische Republik versprach.
Eine sanft blickende Frau in weißer Bluse, den Kopf leicht zur Seite geneigt, auf dem Kopf ein kokettes Hütchen in Schwarz. Auf den ersten Blick wirken weder die Person des kleinen Selbstporträts, auf das die Besucher:innen im Istanbuler Sabancı-Museum zulaufen, besonders revolutionär, noch seine Malweise.
Das Pastellbild kommt in einer Mischung aus Realismus und Impressionismus daher: eine sittsame höhere Tochter, zurückhaltend, fast scheu. Doch trotz des unscheinbaren Äußeren: Wahrscheinlich gibt es nur wenige Künstler:innenleben, in denen sich die historischen Umbrüche der Türkei so spiegeln wie in demjenigen Melek Celâls, die dieses Bild von sich im Jahr 1934 malte.
Es begann ganz klassisch und konventionell: 1896 als Tochter des osmanischen Offiziers Ziya Bey und seiner Frau Naciye in Istanbul geboren, wuchs die junge Frau in einem begüterten Haushalt auf. Sie geht nicht zur Schule, sondern wird zu Hause erzogen und mit 21 Jahren von ihrer Familie mit dem zypriotischen Anwalt Celâl Bey verheiratet, dessen Namen sie fortan trägt.
Aus dem üblichen Rahmen fällt der intellektuelle Background. Durch ihre Großmütter stößt sie als junges Mädchen zu den „Dienstag-Empfängen“, zu denen die Dichterin Nigâr Hanım Istanbuls Intellektuelle in ihr Haus im Großbürgerviertel Nişantaşı einlud – Frauen inklusive. Die 1862 geborene Nigâr Hanım war ein bedeutendes „role model“ für die Frauen in der Zeit nach der 1839 beginnenden Reformperiode Tanzimat, in der Sultan Abdülmecid westlich orientierte Staats- und Gesellschaftsreformen durchsetzte.
Männliche Pseudonyme für Künstlerinnen
Künstlerinnen verbargen sich damals noch hinter männlichen Pseudonymen. Als erste Frau im Osmanischen Reich veröffentlichte Nigâr Hanım einen Gedichtband, der modernen westlichen Stil und feminine Sensibilität verband. Nach dem Tod von Meleks Mutter animiert sie die junge Frau, Malerin zu werden. Die Affinität zur Kunst gab es schon zuvor. In dem europäischen Netzwerk Libre Échange hatte sie schon Postkarten und Autografen berühmter Künstler:innen ausgetauscht.
Melek nahm Unterricht bei einem Militärzeichner, besuchte die 1914 eingerichtete Kunstschule für Frauen, die in der zweiten konstitutionellen Periode öffnete, die Sultan Abdülhamids II. autoritärer Herrschaft folgte. Zeitweilig studierte sie an der Pariser Kunstschule Académie Julian.
Bereits 1917, im Jahr ihrer Hochzeit, mit 21 Jahren, nahm sie unter ihrem Mädchennamen Melek Ziya an der zweiten Galatasaray-Ausstellung teil, mit der die Gesellschaft Ottomanischer Maler (die sich nach der Republikgründung 1923 in Gesellschaft Türkischer Maler umbenannte) im Jahr zuvor am Bosporus eine eigene Salontradition begründet hatte.
Im Jahr 1935 stellt sie im Mısır Apartment auf der Istiklal Caddesi, Istanbuls zentraler Ausgehmeile, aus – die erste Soloausstellung einer Frau in der Türkei. Das 1910 von dem armenischen Architekten Hovsep Aznavur erbaute Art-Nouveau-Palais für die High Society ist bis heute ein Standort türkischer Galerien.
Salonveranstaltungen in Istanbul
In ihrem Haus in Istanbul-Moda wiederholen Melek und ihr Ehemann das vorrepublikanische Salonmodell Nigâr Hanıms in den zwanziger bis vierziger Jahren. Sie versammeln Freigeister und Unterstützer der Republik. Einer ihrer engsten Freunde wurde der Schriftsteller Yahya Kemal Beyatlı, der für Atatürks Republikanische Volkspartei im Parlament saß.
1936, ein Jahr nach der 5. Parlamentswahl, bei der die türkischen Frauen zum ersten Mal wählen durften, zollt sie dem Aufbruch der Frauen mit einem ungewohnt politischen Werk Tribut. In ihrem Ölbild „Frau ergreift das Wort in der Alten Großen Nationalversammlung“ steht eine der 17 Frauen, die damals 383 männlichen Abgeordneten gegenüberstanden, am Rednerpult in Ankara.
Die aufschlussreiche Ausstellung ist das letzte Glied in einer Reihe des Sabancı-Museums, die sich von Feyhaman Duran über Avni Lifij bis zu dem malenden Sultan Abdülmecid Efendi Gründungsfiguren der Kunstgeschichte im Übergang vom Osmanischen Reich zur türkischen Republik widmen. Melek Celâl selbst nahm an insgesamt 27 Ausstellungen teil, die letzte davon in München 1964 in der Galerie Schumacher. In der bayerischen Metropole starb sie 1976.
Heirat mit deutschem Arzt
Nach dem Tod ihres ersten Mannes hatte sie den deutschen Arzt Andre Lampé geheiratet. Für dieses lange Künstlerinnenleben ist ihr Œuvre eher schmal. Bis auf die in der Ausstellung gezeigte, auffällig expressive Büste des polnischen Malers Roman Bilinsky, mit der sie ihr Interesse demonstrierte, ins Dreidimensionale vorzudringen, gelten ihre Skulpturen als verschollen. Trotzdem gelingt es der Schau, Celâls Werdegang mit wenigen Werken nachzuzeichnen.
„Melek Celâl. A Forgotten Woman of the Republic“. Sakıp Sabancı Müzesi, Istanbul. Noch bis zum 28. April 2024. Katalog: 1000 TL (30 Euro)
In der Presse ab den 30er Jahre wurde Celâl als „Porträtmalerin“ gelabelt, 50 solcher Genrearbeiten hatte sie geschaffen. Darin, in ihren Stillleben und zahllosen Kohlezeichnungen und Pastellstudien variiert sie denselben impressionistisch-realistischen Mix.
In Wahrheit war sie mehr als eine Porträtistin. Sie schrieb Bücher über Kalligrafie und türkische Stickereikunst. In ihren letzten Lebensjahren profilierte sie sich in zahlreichen, in der Ausstellung dokumentierten Artikeln als Kritikerin der Istanbuler Stadtplanung.
Ihr auf den rapiden Umbau des Stadtteils Üsküdar gemünzter Satz „Innovation meint niemals, ignorant gegenüber der Vergangenheit zu sein“, ließe sich umstandslos auf die Bauwut anwenden, mit der Istanbul nach Meinung von Kritiker:innen heute in eine Kopie von Dubai verwandelt zu werden droht.
Dass zum Abschluss des 100. Republikjubiläums im vergangenen Jahr mit der Melek-Celâl-Schau eine „außergewöhnliche Frauenfigur, die ein Beispiel für die Generation gibt, die die Republik großziehen wollte“, so unterstreicht es Museumsdirektorin Nazan Ölçer nachdrücklich, in einer Ausstellung präsentiert wird, ist auch ein politisches Zeichen.
Mächtigste Frauen der Türkei
Die private Sabancı-Stiftung, zu der neben einer Universität das im Istanbuler Nobelvorort Bebek in einem malerischen Park am Ufer des Bosporus gelegene Sabancı-Museum zählt, gehört dem gleichnamigen, 1967 als kleines Textilunternehmen in Adana gegründeten, inzwischen global agierenden Konzern. Nach dem Tod des Firmengründers Sakıp 2004 wird die (nach dem ewigen Konkurrenten Koç) zweitgrößte Industrie- und Finanzgruppe der Türkei mit Suzan Sabancı und Güler Sabancı von Sakıps Abkömmlingen der dritten Generation geführt.
Sie gelten als die mächtigsten Frauen des Landes und sind für ihre säkulare, republikanische Haltung bekannt. Mit Melissa Sabancı Tapan ist das jüngste Mitglied der kunstbegeisterten Familie in die Rolle der Mäzenin geschlüpft. Sie leitet die 2019 gegründete internationale Künstlerresidenz Gate 27 im Istanbuler Stadtteil Yeniköy.
Die Schau betont ihre „hidden agenda“ nicht demonstrativ. Auf die Präsentation eines ihrer zwanzig Aktbilder, die Melek Celâl in der Galatasary-Ausstellung des Jahres 1922 gezeigt hatte und mit denen sie zu einer der ersten türkischen Künstlerinnen aufstieg, die dieses Genre in ihrem Land ausstellten, verzichtet die Schau. Deren Botschaft teilt sich freilich auch ohne „nudes„ oder feministische Parolen klar genug mit. Mögen Celâls Lebenswerk und Kunst auch ein bourgeoises Exempel abgeben.
Emanzipationsversprechen
In ihnen spiegelt sich eines der, wenn nicht das zentrale Emanzipationsversprechen der türkischen Republik und ihres Gründers, das in der Türkei des gegenwärtigen Präsidenten, nicht zuletzt nach dessen 2021 erfolgtem Austritt aus der Istanbul-Konvention zum Schutz von Frauen vor Gewalt, ausradiert zu werden droht.
Am Schluss der Ausstellung ist die goldene Gedenkmedaille zu sehen, die Melek Celâl 1939, ein Jahr nach dem Tod des Republikgründers Mustafa Kemal Atatürk, für diesen schuf. „Die türkischen Frauen, die Sie befreiten, werden ewig Freudentränen für Sie vergießen“, ist darauf neben zwei knienden Frauengestalten eingraviert.
Der Kritiker und taz-Autor Ingo Arend arbeitet derzeit als Stipendiat der Kulturakademie Tarabya in Istanbul zu Kunst und Politik in der Türkei.
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