Ausstellung „Revision“ in Hamburg: Das Bild zum Vortrag
Demokratisierung der Fotografie: Das Museum für Kunst und Gewerbe in Hamburg hat 75.000 Fotos gesichtet und zeigt die Ausstellung „Revision“.
Diese Augen durchbohren. Halten einen fest im Jetzt und Hier. Doch es ist über 30 Jahre her, seit dieser Sterbende so irr wie intensiv in die Kamera Robert Lebecks sah. In scharf konturiertem Schwarz-Weiß ist das 1971 in Kalkutta geschossene Foto gehalten. Dieser Kontrast ist ein gutes Vehikel für die Reportagefotografie jener Jahre – hart und klar Situationen zeigend, ohne sich im voyeuristisch farbigen Detail zu verlieren.
Das Bild schaut einem derzeit in Hamburgs Museum für Kunst und Gewerbe entgegen und packt politisch wie ästhetisch. Damit man beide Komponenten nicht gegeneinander ausspielt, haben die Kuratoren die Reportage-Zeitschriftstrecken an den Wänden platziert und die dekontextualisierten Einzelfotos nochmals in einer Vitrine. Denn von der Ambivalenz zwischen Ethik und Ästhetik lebt die Reportagefotografie, zentrale Etappe in der Geschichte des Genres, mit der sich diese Schau befasst.
„Revision“ heißt sie und zeigt, was die Durchsicht der 75.000 Fotos fassenden Sammlung des Museums zutage förderte. Das beginnt mit Daguerreotypien der 1840er Jahre und endet mit aktueller Digitalfotografie, exemplarisch präsentiert anhand ausgewählter Kapitel.
Zentral war dabei immer die Frage nach Authentizität, und das von Anfang an: Wie idyllisch ist der Orient noch, nachdem wir Reisefotos gesehen haben, die staubige Städte und von Soldaten kolonial umringte Sphinxen zeigen, fragte man sich etwa um 1870. Denn das Foto entzauberte, was Literatur und bildende Kunst lange idyllisiert hatten. Und verhüllte zugleich, denn man verstand das neu sichtbare Fremde kaum.
„Revision“, bis 17. April 2017, Hamburg, Museum für Kunst und Gewerbe.
Diese Ambivalenz gilt auch für das Porträt. Sicher, Carl Ferdinand Stelzners Gemüsehändlerinnen-Foto von 1845 war so naturgetreu wie Hugo Erfurths Gesichter der 1930er Jahre. Doch ein Defizit blieb. Denn überrascht registriert man, dass die grell ausgeleuchteten Nahaufnahme eines Gesichts so wenig preisgibt wie ein verkleideter Mensch; das Gesicht als Maske und Schranke.
Auf den Leim gegangen
Geradezu brutal wird man auf diese Wahrheit gestoßen, wenn man sich in August Sanders „Menschen des 20. Jahrhunderts“ von 1924 vertieft. Bauern und Bäuerinnen hat er da fotografiert und sie dreist „Revolutionär“ oder „Philosophin“ genannt. Man wundert sich – das ist doch kein Philosophengesicht? –, fühlt sich schließlich ertappt: Man ist dem Fotografen auf den Leim gegangen, der genau diese Vorurteile und Blickgewohnheiten zerlegen wollte.
Doch Fotografie konnte mehr, wirbelte auch bis dato gültige gesellschaftliche Hierarchien durcheinander. Denn bald nach dem – recht teuren – Daguerreotypie-Porträt, das es nur im Unikat gab, wurde das billigere, auf Albumin-Abzügen basierende Visitenkarten-Porträt erfunden und schnell zum Massenprodukt. Die Demokratisierung der Fotografie hatte begonnen.
Zugleich deren Manipulierbarkeit, auf die Spitze getrieben von den Piktorialisten, die noch von Hand betrieben, wofür Digitalfotografie heute einen Mausklick braucht. Verbissen versuchten die Piktorialisten seit den 1870er Jahren, das Foto als Kunst zu etablieren: Mit komplizierten Edeldruckverfahren und Retuschiermethoden bearbeiteten sie die Abzüge, um den Verdacht zu entkräften, sie seien bloße Dokumentare. Subjektiv formulierende Maler wollten sie sein, wählten fast mystische, bewusst unscharfe Landschafts- und Personenmotive.
Herausgekommen sind präraffaelitische Bilder wie Robert Demachys an John Everett Millais’„Ophelia“ erinnernde junge Frau, die impressionistische Wiese Heinrich Kühns, der symbolistische Wald Edouard Hannons. Ästhetische Bilder allesamt, gedacht als Konkurrenz zur Malerei. Daraus wurde zwar nichts, aber die Anerkennung der Fotografie als Kunst ist durchaus Verdienst der Piktorialisten – und ihres Hamburger Förderers Ernst Juhl, dessen Sammlung das Hamburger Museum 1916 ankaufte.
Trotzdem dauerte es noch Jahrzehnte, bis die Museen standardmäßig Foto-Abteilungen gründeten. 1950 preschten die USA vor, in den 1960er, 1970er Jahren zogen viele Europäer nach. Wohlgemerkt: Das gilt für die reine Kunstfotografie; Dokumentarfotografen fürs eigene Archiv hielten sich die Museen schon lange. Eins der ersten war auch hier Hamburgs Museum für Kunst und Gewerbe, dessen Gründungsdirektor schon 1867 Fotos kaufte und ausstellte. Kurz darauf ließ er das bis dato gezeichnete durch ein fotografisches Inventar ersetzen.
Er war nicht der Einzige, die neue Technik sprach sich herum, wurde exquisites Handwerkszeug der Forscher. Denn jetzt konnten sie Exponate auf dem Schreibtisch bequem nebeneinander legen und vergleichen, statt sie im fernen Depot aufzustöbern. Oft wurden diese Reproduktionsfotos dabei selbst zum Kunstwerk – etwa die 1925 entstandenen Bilder des Bamberger Reiters. Walter Hege hat den Kopf der mittelalterlichen Skulptur aus so verschiedenen Perspektiven ausgeleuchtet, dass er wie das Porträt eines Lebenden wirkt.
Behaartes Spinnenbein
Nähe brachte auch die gleichfalls zunächst wissenschaftlich, bald auch ästhetisch motivierte Mikrofotografie: Zu fein ziselierten, asymmetrischen Serien wurden Fotos von Blatt- und Zellstrukturen. Rührend nah und gruselig groß erschien das behaarte Spinnenbein, der Mund der Biene. Und da Fotografen und Forscher die Bilder in Vorträgen präsentierten, partizipierte die Öffentlichkeit damals durchaus.
Jahrzehnte später reanimierte Albert Renger-Patzsch in der Zeit der Neuen Sachlichkeit diese Ambivalenz zwischen Ästhetik und Präzision, die Suche nach naturnahen Ordnungsprinzipien etwa in der Architektur. Seine Zeitgenossen Christian Schad und László Moholy-Nagy gingen weiter, experimentierten mit dem Medium selbst, als sie ihre Fotogramme schufen – Collagen kameralos belichteter Gegenstände. Konstruktivistische Schattenspiele waren das, Avantgarde und Archaik zugleich. Kilian Breier schuf derweil, Negative mit Klebstoff übergießend, „Uhugrafien“, die an Jackson Pollock erinnern.
Das Schöne an diesen Experimenten: Sie befreien nicht nur den Fotografen von der Pflicht, einen Gegenstand abzubilden. Sondern entlassen auch den Betrachter aus dem Stress, ihn zu finden und zu deuten.
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