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Ausstellung „Magical Realism“ in BrüsselDer Magie das Unaussprechliche

Im Brüsseler WIELS, Zentrum für Zeitgenössische Künste, untersucht eine Ausstellung die Beziehung von Realismus und Magie. Auch KI spielt eine Rolle.

Was die Pflanzen wohl denken? Blick in die Ausstellung „Magical Realism“ im WIELS Foto: Eline Willaert

„Wer bist du? Wie spreche ich deinen Namen aus? Darf ich mich setzen? Sollte ich nun besser gehen?“ Diese Fragen stellte der in Kalifornien aufgewachsene Autor Barry Lopez an Landschaften, wenn er sie zum ersten Mal betrat. In seinem Essay „Love in a Time of Terror“ beschreibt er eine Reise ins australische Outback, in das Territorium der Warlpiri-Gemeinschaft. Zum Ziel hatte er nicht einen bestimmten Ort, sondern eine bestimmte Erfahrung: Er suchte nach Verbundenheit mit einer Landschaft, „die den meisten Leuten aus meiner Kultur als Ödnis vorgekommen wäre“.

Beim weiteren Nachdenken fällt ihm auf, wie wichtig die Figur der Metapher für diese Art, in der Welt zu sein, ist. Daher, so nimmt er an, sprechen Ver­tre­te­r:in­nen der Warlpiri sogar in Verhandlungen eher in Metaphern als in sogenannten Fakten und Daten. Es gehe darum, Begriffe zu gebrauchen, die Interpretationsspielraum lassen, statt vorzugeben, dass Realitäten wortwörtlich und nur in einer einzigen Logik zu begreifen seien.

In diesem Sinn ist die aktuelle Ausstellung im WIELS, dem Brüsseler Zentrum für Zeitgenössische Kunst, eine Reise ins Outback. Unter dem Titel „Magical Realism: Imagining Natural Dis/order“ (Magischer Realismus: Natürliche Un/Ordnung vorstellen) versammelt sie Arbeiten von über 30 internationalen Künstler:innen, die die Beziehungen zwischen dem (oft überfordernden) Realen und dem Magischen untersuchen.

Dafür ist die Ausstellung im gesamten Gebäude einschließlich Treppenhaus und Dachterrasse auf beeindruckende Art verschachtelt. Man kann sich darin vorkommen wie in einem Gemälde von M. C. Escher, in dem es nicht klar ist, ob die Treppen nach unten oder nach oben gehen. Dennoch strahlt der Aufbau Großzügigkeit aus und hat ganz und gar nichts Klaus­tro­phobisches – vielmehr landet man als Be­su­che­r:in plötzlich dort, wo man schon einmal war, jedoch verwandelt, transponiert, bereit, neu zu gucken oder sich weitertreiben zu lassen.

Die Ausstellung

„Magical Realism: Imagining Natural Dis/order“. WIELS Brüssel, Belgien, bis 28. September

Vielleicht sind es darum auch die Treibholz- und Strandgutinstallatio­nen, die einen in den Bann ziehen. Zunächst „NAUfraga“ (Schiffbruch) von Cecilia Vicuña, ursprünglich für die 59. Biennale von Venedig entstanden. Im Raum schweben organische und anorganische Fundstücke, die Mobilé-artig miteinander verknüpft sind: Plastik, Hölzer, Stücke von Fischernetzen, Schnüre, Drähte, Algen.

„Schiffbrüchige“ als Ziffern im Raum

Die in Chile aufgewachsene Vicuña bezieht sich in ihrer Installation auf zwei Begriffe: auf Quipu, eine Knotenschrift, die ab dem 7. Jahrhundert unserer Zeitrechnung in den Anden verbreitet war, sowie auf ihre Schöpfung einer arte precaria, einer prekären Kunst, bei der Vergänglichkeit und Verletzlichkeit die bestimmenden Kriterien sind. Höchstmögliche Verletzlichkeit setzt sie gegen härteste Brutalität. Ihre „Schiffbrüchigen“ sind atmosphärische Ziffern im Raum – nicht zu entschlüsseln, aber fühlbar.

Ein anderes faszinierendes Treibholzobjekt stammt von der belgischen Künstlerin Edith Dekyndt, deren Soloausstellung „Animal Methods“ Ende 2024 in der Berliner Galerie Konrad Fischer zu sehen war. Sie hat ein Totholzstück durch eine von KI programmierte weiße Form ergänzt. Die resultierende Skulptur führt vor, wie in der Kunst Magie in Form von Schönheit entsteht. Überhaupt überrascht in „Magical Realism“ der Umgang mit sogenannter künstlicher Intelligenz. Sie wird nicht als Bedrohung für ein „künstlerisches Genie“ präsentiert, sondern vielmehr für das künstlerische Material benutzt.

So entsteht zum Beispiel eine Verwandtschaft zwischen scheinbar entfernten Dingen wie den Objekten aus intentional hergestellten Pilzgeflechten von Nour Mobarak und einer KI-generierten Antwort auf Suzanne Huskys Frage „Kannst du eine Welt beschreiben, in der Menschen bewusst mit Vögeln, Fischen, Bäumen und Energie verbundene Wesen sind?“ Ein Exzerpt der Antwort: „Vögel teilen ihr Richtungsgefühl, wodurch Menschen nicht allein örtliche Orientierung erlangen können, sondern sich auch in tieferen Lagen von Gedanken und Intuition orientieren können.“

Technik und Magie

KI erscheint hier als das menschliche Pendant zu Intelligenzsystemen der nicht-menschlichen Natur. Mit dem Unterschied, dass andere Systeme in Bezug auf ihren Ressourcenverbrauch intelligenter sind. Im Katalog der Ausstellung arbeitet der Philosoph Federico Campagna die unterschiedliche Wirkweise von Technik und Magie heraus. Technik versteht er als absolute Sprache.

Das Reich der Magie ist dagegen das Unaussprechliche, nicht durch Sprache Fassbare. Sich auf verkörpernde Art in das Andere zu versetzen, sei daher ein Weg, den Verlust der eigenen Welt als weniger bedrohlich zu erfahren.

Diesen Möglichkeitsraum eröffnet „Magical Realism“. Wer sich auf den Weg vom Misanthropen zum Kosmopoliten machen möchte, ist zurzeit im Brüsseler Outback richtig.

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