Ausstellung JVA Tegel: Farben, die mit Schatten tanzen
Ein Projekt mit Strafgefangenen aus dem offenen Vollzug der JVA Tegel stellt im Kunstquartier Bethanien aus. Die Teilnehmenden verwandeln Biografien voller Traumata und Träume in Kunst
Die Männer, die hier eifrig arbeiten, sind größtenteils Strafgefangene im freien Vollzug der Justizvollzugsanstalt (JVA) Tegel. Inzwischen sind die Bilder fertiggestellt, noch bis Donnerstag sind sie im Kunstquartier Bethanien zu sehen. Was dabei entstanden ist, sind Wimmelbilder: chaotisch, dicht, übervoll. An vielen Stellen sieht man Waffen, Drogen, Panzer, Fäuste, Explosionen. Es sind Zeugnisse von dem Aufwachsen in Kriegsgebieten oder von häuslicher Gewalt in der Kindheit. Aber es findet sich auch subtilere Symbolik, die Fragen aufwirft: wie ein Schneemann, dem eine Hand über dessen Karottennase streicht, oder ein vollgepacktes Frachtschiff, das durch eine dunkle Szenerie fährt.
In den Motiven wird deutlich, dass die Künstler:innen nicht nur verbindet, dass sie straffällig geworden sind. Ihre Kunst ist auch das Ergebnis einer Auseinandersetzung mit Traumata und oftmals einer Kindheit unter schweren Vorzeichen. Tatsächlich geht es beim Projekt „Vom Dunkeln ins Licht – Sieben Bilder einer Spurensuche“ in erster Linie darum, ins Reflektieren zu kommen. In sieben Schritten sind die Künstler:innen in ihre eigenen Biografien eingetaucht. Ihre Bilder haben sie gemeinsam gestaltet. Das Ergebnis sind Großformate mit viel Symbolik, die widerspiegeln, was in den zahlreichen Gesprächen, Diskussionen und der Entwicklung, die die Teilnehmer:innen durchgemacht haben, zutage befördert wurde.
Das erste Bild der Ausstellung behandelt etwa die Frage: „Geheimnis – woher komme ich?“, was sich auf die Zeit vor der Geburt bezieht. In der multireligiösen Gruppe hätte es dazu verschiedene Ansichten gegeben, erzählt Kerl-Akkan. Am Ende hätten die Gespräche zu mehr Offenheit und gegenseitigem Verständnis geführt. Verhandelt werden in den Bildern nicht nur persönliche Themen und Fragen von Identität und Delinquenz, sondern auch systemische Fragen, die die Stellung von Gefangenen in der Gesellschaft betreffen.
Es fehlt an Wohnraum und Therapieplätzen
„Viele unserer Klient:innen kämpfen gleichzeitig mit psychischen Erkrankungen, Suchtthemen, Wohnungslosigkeit, Stigmatisierung und mangelnder familiärer oder sozialer Unterstützung“, sagt die Vereinsvorsitzende der Freien Hilfe, Kathleen Kurch. Ihren Klient:innen fehle es oft an bezahlbarem Wohnraum sowie therapeutisch betreuten Plätzen. Häufig stünden zudem Bürokratie oder begrenzte Mittel im Weg. „Es sind die alltäglichen Schwierigkeiten, denen wir uns in unserer Arbeit stellen – und die zeigen, wie wichtig vernetzte, menschlich zugewandte Unterstützung ist“, sagt sie.
Bei der Freien Hilfe ist man überzeugt, dass Resozialisierung, das zentrale Ziel im Strafvollzug, mit einer Beziehung zu den Gefangenen beginnt. Der Verein, der in diesem Jahr sein 35-jähriges Bestehen feiert, bietet neben dem Kunstprojekt weitere Angebote an, wie Wohnhilfen und ein Programm, in dem ehemalige Inhaftierte gefährdete Jugendliche begleiten. Die Leitziele des Vereins sind Haftvermeidung, Reintegration und soziale Teilhabe.
Einer der Hebel dafür ist die Prisma Art Gallery, die seit 2023 besteht. Immer wieder wird bei den vier Besuchen der taz bei dem Projekt deutlich: Es gelingt tatsächlich, dass sich die Gefangenen im Rahmen des Kunstprojekts öffnen. Am Rande der Ausstellungseröffnung erzählt der 43-jährige Sebastian S., dessen echter Name nicht in der Zeitung stehen soll: „Am Anfang des Projekts war ich sehr verschlossen und habe alles verdrängt. Doch nach und nach habe ich mich geöffnet und durch die Bilder meine Geschichte ausgedrückt.“ Er erzählt, im März wolle er eine Ausbildung als Tischler beginnen.
Der Kunsthistoriker und Autor Jan-Philipp Frühsorge, der das Projekt eng begleitet, ordnet die Werke als Outsider Art oder Art Brut ein, also Kunst von Menschen, die autodidaktisch außerhalb des etablierten Kunstsystems arbeiten: „Für viele ist die Kunst und Kreativität oft die erste, manchmal die einzige Art in ein biografisches Gespräch mit sich selbst zu kommen“, sagt Fürsorge.
Wie fühlt sich Gefangensein an?
Immer wieder geht es in den Gesprächen, die die taz mit den Gefangenen führt, auch um das Gefangensein und die aktuelle Lage im Knast. Die 40 Männer und vier Frauen, die an dem Projekt teilnehmen und aus dem offenen Vollzug kommen, leben in einer Art Zwischenwelt. Tagsüber können sie sich teils frei bewegen, aber abends müssen sie zum Einschluss zurück in die JVA. Manche sitzen seit mehreren Monaten, manche seit vielen Jahren. Bei einigen hat der Knast Spuren hinterlassen.
Mario G., der ebenfalls nicht mit echtem Namen genannt werden soll, erzählt etwa, wie er sich am ersten Tag in Freiheit dabei ertappt habe, wie die Stigmatisierung als Häftling auch auf ihn selbst herübergesprungen sei. In der U-Bahn sei er angequatscht worden, einfach so, der Mann sei nett gewesen. Da habe sich G. gefragt: „Weiß der nicht, woher ich komme?“ Erst hinterher habe er realisiert: „Es steht ja auch nicht auf meiner Stirn, dass ich ein Knacki bin.“ Es ist ein Reflex aus der Zeit im Gefängnis. „Dass wir die schlimmsten sind, wird uns in der JVA jeden Tag aufs Brot geschmiert“, sagt ein anderer Gefangener zur taz.
Bei der Ausstellungseröffnung am vergangenen Donnerstag drängeln sich Hunderte Besucher:innen durch die kargen Räume, zwischen ihnen die Künstler:innen mit ihren Betreuer:innen und Wegbegleiter:innen. Auch ein Baby krabbelt durch den Raum herum und freut sich glucksend über seine Bewegungsfreiheit. Das Bild an der Wand über ihm zeigt einen Vater, der mit seinen Kindern an der Hand in Richtung eines Sonnenunterganges geht, einen Auftritt eines Rappers vor vielen Fans, eine Friedenstaube und eine Autobahn mit einem geöffneten Grenzübergang vor einem prächtigen Bergpanorama.
Das siebte und letzte Bild der Ausstellung, in dem es um Träume und Hoffnungen geht, ist das mit Abstand friedlichste der Reihe. Eine andere, selbstbestimmte Vorstellung von Zukunft hat hier bereits Gestalt angenommen.
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