Ausstellung „Bikes!“ in Leipzig: Die stete Neuerfindung des Fahrrads
Das Leipziger Grassi-Museum zeigt mit „Bikes!“ eine innovativ-skurrile Ausstellung zwischen aktuellen Trends und gehobenem Schrott.
Das Leipziger Grassi-Museum für angewandte Kunst hätte sich für seine „Bikes!“-Ausstellung gleich bei den Lebenskünstlern bedienen können, die vor dem Haus auf dem Johannisplatz eine temporäre Installation aufgebaut haben. Unter dem hilfsenglischen Kunstwort „meyouwedo“ schwärmen sie von einer transkulturellen Gesellschaft, und zu der gehört auch eine Fahrrad-Selbsthilfewerkstatt; eine nützliche Schrottsammlung, dienlich allen Fans dieses aus der Draisine und dem Velo hervorgegangenen muskelgetriebenen Fahr-Rades. Und das werden immer mehr.
Gehobenen Schrott gibt es auch drinnen unter den Rubriken „Kult“ und „Kunst“ zu sehen. Hauptsächlich aber blickt diese gut besuchte Ausstellung nach vorn und greift aktuelle Trends und Entwicklungen auf. Die Schlagworte „Neuerfindung“ und „Neubewertung“ finden sich schon auf der Begrüßungstafel und im Einführungstext eines sehr übersichtlichen Flyers. Ein Rahmen, wenigstens zwei Räder, etwas zum Treten, Sitzen und Lenken – das sind Mindestkriterien für ein Fahrrad. Doch selbst der abgebrühte Straßenkämpfer auf dem Zweirad, oft als „Rad“ schlechthin bezeichnet, staunt, was man aus der scheinbar ausgereizten Fahrradkonstruktion noch machen kann.
Bevor es mit den Modellen losgeht, stimmt eine Montage köstlicher Fotos auf die Fahrradkultur und die Milieus ein, die durch sie geprägt werden: drolligste Klingeln und Hupen, Plastiktüten als Sattelschutz, vollgestellte Hinterhöfe und niederländische Fahrradparkhäuser, übereinandergestapelte Räder an einem Mast oder das Rennrad oben auf dem Bücherregal. Videos zeigen überfüllte Radwege.
Fahrradklau ist Volkssport, und wie ein Menetekel begrüßt ein während der Ausstellungseröffnung geknacktes Stahlgliederschloss die Besucher. Mit einem textilen Seilschloss „texlock“ kann das angeblich nicht passieren. Diebstahl ist bei einem Mietrad ziemlich sinnlos, und die Ausstellung steigt auch prompt mit Bike-Sharing ein. Am modernsten mit elektronischen Schlössern.
„Bikes!“, bis 1. Oktober, Grassi-Museum, Leipzig, Katalog (Hirmer Verlag), 29,90 Euro.
Das Fahrrad liegt nicht nur im Fitness-Trend und ist Kult, es ist auch unter rationalen ökologischen und verkehrspolitischen Aspekten das vernünftigste Verkehrsmittel. Zumindest in der Stadt, und der zugegeben etwas sportlicher radelnde Autor dieser Zeilen fühlte sich durch die Behauptung bestätigt, dass es bis zu Entfernungen von zehn Kilometern das schnellste Verkehrsmittel sei.
Ganz futuristisch
Aber schon beim Einstieg in die Ausstellung liest man Sätze wie: „Von einem friedlichen Nebeneinander von Auto- und Radfahrern ist man in den meisten Städten jedoch noch weit entfernt.“ Daran ändert auch der Elektroantrieb nichts. Man staunt, wie gut er sich mittlerweile verstecken lässt und wie sich Radgewichte unter 20 Kilogramm drücken lassen. Ganz futuristisch mutet eine Ladestation aus Hallein in Österreich an.
Aber ehrlich: Für ehrgeizige Selbsttreter ist solch ein Hybrid-Rad nichts. Ebenso wenig wie der Auto-transportfähige Faltrad-Kompromiss, ein Anreiz vorwiegend für Pendler. Wer noch mit dem simplen Mifa-Klapprad aufgewachsen ist, reibt sich verwundert die Augen, wo diese neuen Rohrbündel überall Gelenke für ihre Trickfaltung bekommen haben.
Noch längst nicht ausgereizt ist das gute alte Lastenrad. Bis 200 Kilogramm soll es inzwischen fortschleppen, nicht nur das wie eine aufgemotzte Harley-Davidson ausschauende gelbe Postrad. Die abnehmbare Kinderkabine scheint gegenüber dem Anhänger im Vorteil. „Zwei Bierkästen plus zwei Kinder“ wirbt der Leipziger „PonyJohn“ für seine Belastbarkeit, und das ökologische Bestattungsmobil ist ebenfalls in Sicht.
Unisex-Tiefeneinstieg oder Komfortfederungen
Alltagstauglichkeit für alle ist ein großes Thema. Unisex-Tiefeneinstieg oder Komfortfederungen aller Art sollen auch Personen mit Handicap vom Rad überzeugen. Kein Thema ist hingegen das oft zu schwere Gewicht von Kinderrädern, die aber ohnehin bald zum trendigen Fatbike mit Traktorreifen neigen.
Man wäre nicht ein Museum für Kunst und Design, wenn nicht auch das Fahrrad als Kult- und Kunstobjekt eine Rolle spielte. „Selbstdefinition über ungewöhnliche Ästhetik“ meint das Statussymbol. Also Retro-Cruiser oder eigenwillige Rahmenkonstruktionen wie aus der Leipziger Rotor-Manufaktur. Ein handbemaltes Rennrad von Wasja Götze ist zu bestaunen.
Das meiste Aufsehen erregt der Cruiser „Wasteland“ von Sven Keller, mit Schrott, zusammengeschweißten Ritzeln oder Elektrolytkondensatoren dekoriert und einem Blechkoffer als Gepäckfach versehen. Kann man den eigenfüßig noch bewegen, fragt man sich ebenso wie bei der umgebauten Chrysler-Autokabine mit Autoreifen.
Brennstoffzelle als Hilfsantrieb
Wohin geht es? Storck ist eine sehr innovative Firma, experimentiert mit Leichtbau, andere mit Holz- und Bambusrahmen. Die Mehrgelenkkurbel „Cyfly“ trennt ein ovales Kettenblatt vom Pedal und will ein höheres Drehmoment erzielen. Bei aufsteckbaren Elektroantrieben gibt es originelle Angebote, sogar an den Einsatz einer Brennstoffzelle als Hilfsantrieb wird gedacht. Ob sich Käufer für das Babel Bike, „das sicherste Fahrrad der Welt“, finden, muss man abwarten. Es bietet wie die Kabinen-Motorroller einen Überrollschutz.
Nichts zu tun hat diese Ausstellung mit den High-Tech-Wundern im Radsport. Gewichtsminimierung, Aerodynamik oder Steifigkeit sind etwas für Extremisten. Der Insider aber vermisst einen Hinweis auf die revolutionären Ultraleicht-Experimente an der Chemnitzer Professur für Sportgerätetechnik, die etwa das untere Rahmenrohr durch ein straffes Seil ersetzen. Der unbefangene Alltagsradler verlässt diese Vielseitigkeitsausstellung teils angeregt, teils ironisch lächelnd, aber auf jeden Fall mit dem Gefühl, richtig im Trend zu liegen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen