piwik no script img

Ausschreitungen in Nordirland29-Jährige bei Unruhen erschossen

Nach Hausdurchsuchungen in der Nacht zu Karfreitag in Derry kam es zu Unruhen. Die Polizei verdächtigt die Splittergruppe New IRA.

Im katholischen Arbeiterviertel Creggan brannten nach den Hausdurchsuchungen Autos Foto: dpa

Dublin taz | In der Nacht zum Karfreitag ist bei Unruhen in Nordirlands zweitgrößter Stadt Derry die 29-jährige Journalistin Lyra McKee getötet worden. Die Polizei hatte im Stadtteil Creggan eine Reihe von Hausdurchsuchungen durchgeführt, weil sie angeblich Hinweise darauf hatte, dass Absplitterungen der Irisch-Republikanischen Armee (IRA) am Osterwochenende Anschläge planten.

„Wir haben nach Waffen und Munition gesucht“, sagte Mark Hamilton, der stellvertretende Polizeichef von Derry/Londonderry. Wie man die Stadt nennt, ist eine politische Entscheidung. Unionisten und Briten nennen sie bei ihrem Kolonialnamen „Londonderry“, Iren und Republikaner beim alten irischen Namen „Derry“.

Aus Protest gegen die Hausdurchsuchungen versammelten sich Dutzende von Menschen auf der Straße. Kurz darauf kam es laut Polizei zu Ausschreitungen. 50 Brandbomben seien in Richtung der Beamten geworfen worden, zwei Autos seien in Flammen aufgegangen, und dann habe ein Maskierter mit einer Pistole mehrere Schüsse in Richtung Polizei abgefeuert. Einer davon traf McKee. In ihrem letzten Post auf Twitter hatte sie die Szenerie in Derry als „absoluten Wahnsinn“ bezeichnet.

Die investigative Journalistin und LGBTQ-Aktivistin stammt aus Cliftonville in Belfast, dem Viertel, wo während des Konflikts mehr Menschen als in jedem anderen Teil Nordirlands ums Leben gekommen sind. In ihrem Blog „Brief an mich selbst als 14-Jährige“ schrieb sie 2014 von den Problemen, als Lesbe in Belfast aufzuwachsen. Der Blog wurde später verfilmt.

„Fortwährende Instabilität in Nordirland“

Voriges Jahr erschien ihr Buch „Angels With Blue Faces“ über einen unaufgeklärten Mord in der nordirischen Hauptstadt. Ihr Roman „The Lost Boys“ über zwei Teenager, die 1974 in Belfast verschwunden sind, erscheint nächstes Jahr. 2016 nahm das Forbes-Magazin McKee in die Liste „30 unter 30 in den Medien“ auf.

Die Generalsekretärin der Journalistengewerkschaft, Michelle Stanistreet, sagte, der Mord habe alle Kollegen und Kolleginnen in Nordirland geschockt. „Er illustriert die fortwährende Instabilität in Nordirland.“ Die stellvertretende Sinn-Féin-Chefin Michelle O’Neill sagte: „Das ist ein Angriff auf alle Menschen in diesem Viertel und ein Angriff auf den Friedensprozess. Die Verantwortlichen sollten ihre Organisation sofort auflösen.“ Arlene Foster, die Chefin der Democratic Unionist Party (DUP), sprach von einer „sinnlosen Tat“. Niemand wünsche sich die Zeiten Nordirland-Konflikts zurück, fügte sie hinzu.

Creggan, ein katholisches Arbeiterviertel, hat eine entscheidende Rolle bei der Eskalation dieses Konflikts gespielt, der rund 3.500 Menschen das Leben kostete. Dort hatten sich am 30. Januar 1972 rund 15.000 Menschen versammelt, um gegen die Internierungspolitik der britischen Regierung zu demonstrieren. Als die ersten Steine flogen, eröffneten die Soldaten des 1. Fallschirmjäger-Regiment das Feuer. Eine Stunde später lagen 13 Tote auf der Straße, ein weiterer Demonstrant starb fünf Monate später. Der Schießbefehl, darin sind sich die Experten einig, musste von der Londoner Regierung abgesegnet worden sein. Nach dem „Bloody Sunday“ erhielt die IRA, die bis dahin relativ wenig Unterstützung genossen hatte, starken Zulauf.

Als das Belfaster Abkommen am Karfreitag vor 21 Jahren zwischen den Regierungen in London und Dublin sowie zwischen den nordirischen Parteien abgeschlossen wurde, kehrte nach anfänglichen Schwierigkeiten relative Ruhe in Nordirland ein. Von Frieden und Aussöhnung ist man jedoch noch weit entfernt. So liegt die Belfaster Mehrparteienregierung wegen Unstimmigkeiten zwischen den beiden größten Parteien, der DUP und Sinn Féin, seit gut zwei Jahren auf Eis.

Brexit ist Gefahr für Karfreitagsabkommen

Am Donnerstagnachmittag war die Vorsitzende des US-Repräsentantenhauses, Nancy Pelosi, mit einer Delegation nach Derry gekommen, um ihre Unterstützung für das Belfaster Abkommen zu demonstrieren. Dass es in Gefahr ist, liegt auch am Brexit. Der Deal, den die britische Premierministerin Theresa May mit der EU ausgehandelt hat, ist bisher am sogenannten „Backstop“ für Nordirland gescheitert. Der schreibt fest, dass das Vereinigte Königreich im Notfall in der EU-Zollunion verbleibt, um eine harte Grenze in Irland zu verhindern. Andernfalls, so befürchtet man, bekämen Dissidenten-Organisationen Auftrieb. Doch Befürworter eines harten Brexits fürchten, dass der „Backstop“ Großbritannien ewig der Handelspolitik der EU unterwerfe.

Die Polizei glaubt, dass die New IRA für die Schüsse auf McKee verantwortlich ist. Diese Organisation ist 2012 durch eine Fusion der Real IRA mit anderen Dissidentengruppen entstanden. Seitdem hat sie zwei Gefängniswärter und einen Polizei-Informanten getötet. Darüber hinaus ist sie für zahlreiche Anschläge verantwortlich, zuletzt im Januar, als eine Autobombe vor dem Gerichtsgebäude in Derry explodierte. Die Polizei schätzt die Zahl der Dissidenten auf mehrere Hundert.

Vor dem Osterwochenende herrscht Nervosität bei den Sicherheitskräften. Traditionell wird am Ostermontag des Aufstands von 1916 gedacht, der die irische Unabhängigkeit einleitete. Gegen die mit schweren Waffen anrückenden britischen Truppen hatten die Rebellen damals keine Chance, nach fünf Tagen war alles vorbei. Damit hätte man den Aufstand zu den Akten legen können. Doch die Kolonialmacht ließ die Anführer der Rebellen hinrichten.

Dadurch löste sie einen Umschwung bei der Bevölkerung aus, es kam zum Unabhängigkeitskrieg. 1921 musste die britische Regierung einen Friedensvertrag anbieten, der die Teilung der Insel besiegelte. Damit war die Saat für den Nordirland-Konflikt gelegt. Dass sie nicht erneut aufgeht, hängt auch vom Ausgang der Brexit-Verhandlungen ab.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare

Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

Wir machen Silvesterpause und schließen ab Montag die Kommentarfunktion für ein paar Tage.
  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!