Ausbeutung für Olympia: Auf dem Rücken der Migranten
Ohne Gastarbeiter würde es die Spiele im russischen Kurort Sotschi nicht geben. Doch sie werden ausgebeutet, betrogen und abgeschoben.
SOTSCHI taz | Eigentlich sollte die Fahrt zu Semjon Simonows Büro knapp zehn Minuten dauern. Nach einer Dreiviertelstunde Umherirren gibt Artur, unser Taxifahrer, auf. Er hat gefragt und gefragt – erst sein Navi, dann nahezu jeden, an dem wir vorbeifuhren. Alle haben ihm eine Antwort gegeben. Keine stimmte. Die Leninstraße ist begraben unter neuen Schnellstraßen, unter Auf- und Abfahrten. Bei 174 endet sie. Wir müssen zu Nummer 204.
Am 7. Februar werden hier in Adler, einem Stadtteil von Sotschi, die 22. Olympischen Winterspiele eröffnet. Der ganze Ort wurde dafür auf links gekrempelt. Überall sind neue Straßen und Bahntrassen entstanden. Überall sind alte Straßen, die aufgerissen sind. In gut zwei Monaten müssen sie wieder geschlossen sein. Es gibt noch viel Arbeit.
Über Hinterhöfe, Garagendächer, dann eine lange Treppe runter, finden wir endlich das Haus, in dem die Hilfsorganisation Memorial ihr Büro hat. Zwei karge Zimmer, zusammen maximal 15 Quadratmeter groß, keine Bilder, ein kleiner Nebenraum mit Toilette. Die einzigen Auffälligkeiten sind das glänzend neue Schloss und der schwere Eisenrahmen, in den die kleine Eingangstür gefasst ist. Semjon sitzt hinter seinem Schreibtisch. Davor hockt Zaid.
Bauverzögerungen: Gut zwei Monate vor Eröffnung der Spiele hat Russlands Sportminister Witali Mutko Probleme beim Bau der Unterkünfte für Athleten und Besucher eingeräumt. „Ich muss zugeben, dass wir bei einer Reihe von Objekten den Zeitplan schon überschritten haben“, sagte Mutko der russischen Tageszeitung Iswestija. Dagegen seien die Sportstätten „bereits alle fertig“. Am Mittwoch machte sich Präsident Wladimir Putin persönlich ein Bild. Bei der Inspektion eines Hotelkomplexes, in dem während der Spiele Journalisten untergebracht werden, bekam er von German Gref, Chef der Staatsbank Sberbank, zu hören, dass „hier alles sehr einfach“ und „das Essen nicht so toll“ sei.
Kostenexplosion: Der veranschlagte Kostenrahmen ist aufgrund von Korruption und Vetternwirtschaft explodiert. Statt des ursprünglich anvisierten kleinen zweistelligen Milliardenbetrages sollen die Spiele inzwischen über 40 Milliarden Euro kosten – und damit so viel wie alle bisherigen Winterspiele zusammen.
Zaid ist 46, er kommt aus Usbekistan. Seit sechs Monaten ist er in Sotschi, hat Kabel verlegt inUnterkünften für Volunteers und Sicherheitskräfte und zuletzt im Sanatorium „Goldene Ähre“. Geld hat er für seine Arbeit nicht gesehen. Deswegen sitzt er jetzt bei Semjon im Büro.
Angst vor der Staatsanwaltschaft
Zaid erzählt, dass er Brigadeleiter ist und stellvertretend für insgesamt 30 Kollegen hierher gekommen sei. Er will 300.000 Rubel von seinem Arbeitgeber haben, 10.000 pro Person, umgerechnet 230 Euro. Einen Arbeitsvertrag hat keiner von ihnen. Semjon belehrt Zaid, dass vor Gericht die geleistete Arbeit, nicht der Vertrag zähle.
Doch bis vor Gericht will Zaid es nicht kommen lassen. Denn dafür müsste er zur Staatsanwaltschaft – und das will er nicht. Aus Angst, dass sein Arbeitgeber Verbindungen zu denen da oben hat. Bessere Verbindungen als Semjon.
Die Angst ist nicht unbegründet. Im Sommer haben Steuerbehörde und Geheimdienst FSB Semjons Büro durchsucht. Eine Drohung. Bei Semjon verfängt sie nicht. „Ich weiß, dass alle meine Papiere hundertprozentig in Ordnung sind.“ Semjon sieht schüchtern aus mit seinem Bubigesicht und dem karierten Streberpullover, überhaupt nicht so, wie man sich einen Kämpfer für die entrechteten Arbeiter vorstellt.
Er hat nichts vom Gewerkschaftsbären, der einst selbst Metallbieger war. Semjon ist 30, stammt aus Sotschi, studiert Jura. Sein Handyklingelton ist „Where is my mind?“ von den Pixies. Aber Semjon spricht klar. Er sagt Dinge, die viele in Russland nicht hören wollen.
Gouverneur gegen Gastarbeiter
Semjon schätzt, dass auf den Baustellen in Sotschi 50.000 Gastarbeiter beschäftigt sind. Seit Juli 2012 hilft er in Sotschi den Arbeitsmigranten, er verteilte Flyer auf Baustellen: auf Usbekisch, Tadschikisch, Kirgisisch und Russisch. Im November und Dezember kamen dann die Ersten zu ihm. 2013 hat er 80 Fälle bearbeitet, dahinter standen insgesamt 1.500 Arbeiter, 200 von denen konnte Semjon helfen und Lohn herausschlagen. Insgesamt 6 Millionen Rubel. Im Durchschnitt also 30.000 Rubel pro Person. 690 Euro.
Bei Zaid wird es schwierig. Kein Vertrag, die Vorarbeiter, die seine Arbeit bezeugen könnten, sind schon wieder in der Heimat – und politische Hilfe können Gastarbeiter wie Zaid sowieso keine erwarten. Der Gouverneur der südrussischen Region Krasnodar, Aleksandr Tkatschow, will die Ausländer loswerden. Bis Anfang November sollten eigentlich alle außer Landes sein, er sprach von „Säuberungen“.
Viele sind noch da. Sie müssen noch da sein, die unzählbar vielen Arbeiten sind schließlich längst noch nicht abgeschlossen. „Russland kann ohne Migrantenarbeit überhaupt nicht existieren“, sagt Semjon. Jedes große Bauprojekt finde mit Gastarbeitern statt, denn am Lohn könne man am einfachsten sparen. Dabei seien die Etats für die Bauten in der Olympiastadt groß genug. Insgesamt fast 40 Milliarden Euro sollen die Spiele in Sotschi kosten. Doch irgendwo oben bleibt das Geld hängen. Unten kommt dann wenig an – oder, wie in Zaids Fall, gar nichts.
„Als die Regierung die Olympischen Spiele geplant hat, wurde es in Kauf genommen, dass die Regelungen nicht eingehalten würden. Es war klar, dass hier Sklavenarbeit geleistet werden müsste“, sagt Semjon. „Die Olympischen Spiele werden auf dem Rücken der Migranten gebaut.“
Hamlet erzählt von Stalin
40 Minuten Autofahrt entfernt, immer den Prospekt Kurortnyj – die Kurortstraße – entlang, liegt an einem Hang das Sanatorium „Goldene Ähre“. Es wurde 1935 errichtet. Hamlet Watjan leitet es. Ein kleiner grauhaariger Mann, mit gelbgrauem Hemd und grauer Jacke, die Zuspätgeborene an „Das Leben der Anderen“ erinnert. Hamlet erzählt von Stalin. Wie dieser erst die Industrieprobleme löste und dann auch die sozialen, indem er allen Sowjetbürgern Kuren verschrieb. Stalin verbrachte die Sommer stets in Sotschi.
Ein Monat Kur inklusive Übernachtung, Essen und Behandlungen kostete einen Arbeiter damals genau einen Monatslohn. „Früher war Sotschi die Kurhauptstadt. Man durfte hier nicht rauchen und nicht trinken. Man sollte schlafen, schwimmen und im Park spazieren. Ein Urlaub sollte den Arbeiter so fit machen, dass er danach wieder ein Jahr schuften konnte“, erzählt Hamlet. Aber heute, ach, heute könne sich nur noch jeder fünfte Russe einen Kuraufenthalt leisten. Sotschi ist teuer.
Die „Goldene Ähre“ war damals das Sanatorium für die Bauern. Heute erinnert es mit seinem großen Park, den einzelnen Häusern und den vielen kürzlich angepflanzten Palmen an einen Center Parc – nur ohne Erlebnisschwimmbad, Pfannkuchenhaus und Kinder.
Am Kopf des Parks thront ein Neubau. Neun Stockwerke hoch. Eigentlich wollte Hamlet nur fünf Stockwerke hoch bauen. Doch er hatte einen „Vertrag“ geschlossen. So nennt Hamlet das Papier, das man wohl nur in einer gelenkten Demokratie für einen Vertrag hält. Es war viel mehr ein Diktat – von Olympstroy, der Staatsfirma, die dafür zuständig ist, dass die Sportstätten und die Stadt Sotschi für Putins Spiele hergerichtet werden.
Eine Wahl hatte keiner
15 Hotels und Sanatorien wurden ausgewählt. Alle in bester Lage. Sie sollen Zimmer schaffen für Olympia. Mehr als 40.000 fordert schließlich das Internationale Olympische Komitee vom Ausrichter. Der Vertrag zwischen Hamlets „Goldener Ähre“ und Olympstroy regelt Fertigstellungsfristen und Höchstpreise – und die Verpflichtung, privates Geld für den Neubau aufzutreiben. Die Wahl, nicht zu unterschreiben, hatte keiner, sagt Hamlet.
„2007, als Sotschi den Zuschlag für die Spiele bekam, haben wir uns sehr gefreut“, erzählt Hamlet. „Als dann das Bauprogramm veröffentlicht wurde, hatten wir gehofft, Unterstützung zu bekommen. Doch es gab keine.“
Bauen musste er trotzdem. Neun Stockwerke hoch. Vier mehr, als er wollte. Die Zimmer sind schlicht. Der Ausblick von hier oben auf die Stadt und das Schwarze Meer ist überwältigend. Hier also verlegte Zaid die Kabel. Gelbe und blaue. Während der Spiele wohnen Vertreter der Olympiasponsoren Panasonic und Coca-Cola hier. Ein Zimmer kostet dann 133 Dollar für Übernachtung, Frühstück, Versicherung und Steuern: der vertragliche Höchstpreis. „Wir verdienen an den Spielen nichts.“
„Am Lohn kann man am einfachsten sparen“, hatte Semjon in seinem kleinen Büro gesagt.
Jeden Tag Abschiebungen
Hamlet weiß nichts von Zaids Fall. Er hatte für die Arbeiten ein Unternehmen beauftragt, bei dem auch Migranten gearbeitet hätten. Vor eineinhalb Jahren habe es einmal auf seiner Baustelle einen Fall gegeben, bei dem Arbeiter nicht bezahlt worden wären. Doch er habe damals mit der Staatsanwaltschaft gedroht – und alle Angestellten hätten ihr Geld bekommen.
Und Zaids Anliegen? „Das ist eine Angelegenheit zwischen dem Unternehmen und den Arbeitnehmern“, sagt Hamlet: „Ich habe alle Firmen komplett bezahlt.“
Irgendwo zwischen den Arbeitgebern da oben und den ausländischen Arbeitern da unten ist das Geld dann wohl hängen geblieben. Zaid will demnächst nochmal zu Semjon in die Leninstraße 204. Wenn er dann noch in Sotschi ist. Jeden Tag werden Gastarbeiter abgeschoben. Die „Säuberung“ für Putins Spiele muss schließlich noch vollendet werden.
„Ich hatte die Hoffnung, dass Russland durch die Spiele einen Schritt nach vorne machen würde, auch in seiner Verantwortung gegenüber anderen – im Sinne der Olympischen Charta. Doch die Entwicklung ist nicht progressiv, sie ist regressiv: Die Ausbeutung von Migranten wird schlimmer. Man hätte Olympia nutzen können, um migrantische Arbeit zu legalisieren, doch sie wurde bewusst illegalisiert“, sagt Semjon. „Meine Hoffnungen sind zerbrochen.“
Er will weiterkämpfen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Eine ganz normale Woche in Deutschland
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann