Ausbeutung am Arbeitsplatz: Die Tagelöhner von Bremerhaven
EU-AusländerInnen werden in Bremerhaven als billige Putzkräfte ausgebeutet. Wenn sie beim Jobcenter aufstocken wollen, haben sie keine Chance.
Der Bulgare ist bei seiner Firma in Bremerhaven zwar unbefristet angestellt, aber gleichwohl eine Art Tagelöhner: „Sie arbeiten nur, wenn Arbeit da ist, und werden auch nur bezahlt, wenn sie gearbeitet haben“, sagt sein Anwalt Gerd Bürsner, der neben Aleksev noch weitere Angestellte dieser Firma vertritt. Die Firma – so steht es auf ihrer Website – gehört bei Reinigungs- und Konservierungsarbeiten immerhin „zu den führenden Unternehmen im Bereich Schiffbau“.
Bis zu 150 Stunden im Monat kann Alkesev dort laut Vertrag als „Reiniger/Helfer“ arbeiten. Ende März standen allerdings nur 110 Stunden auf seinem Zettel, macht 990 Euro für ihn, seine Frau und die drei Kinder. Also ist er zum Jobcenter gegangen und hat ergänzende Sozialleistungen beantragt. Der Antrag wurde abgelehnt – die Behörde spricht von fingierten Arbeitsverhältnissen, erklärt der Anwalt. Das Jobcenter selbst wollte sich nicht zu dem Fall äußern.
Nelson Janßen, Sprecher für Bremerhaven und Armutsbekämpfung in der Linksfraktion des Landtages, spricht von „Dumpinglöhnen“ und „Abrufverträgen“. Doch, doch, sagt er, die Arbeit finde schon statt – aber unter „erbärmlichen Bedingungen“. Die Firma und ihr Geschäftsführer Mehmet Bulut* sind ihm wohl bekannt: Janßen war Vorsitzender in jenem parlamentarischen Untersuchungsausschuss, der den Fall Öztürk aufgearbeitet hat, einen jahrelangen, organisierten Sozialleistungsbetrug in Bremerhaven (siehe Infokasten).
„Erhebliche Zweifel“ am Arbeitsverhältnis
Dort war von mehreren Unternehmen im (Schiffs-)Reinigungs- sowie Tankschutzgewerbe die Rede, auch die Firma von Bulut war dabei. In einem Vermerk schrieb das Jobcenter 2016, die Firma scheine „eng in den organisierten Sozialmissbrauch durch EU-Bürger mittels fingierter Arbeitsverträge involviert zu sein“. So ist es im Abschlussbericht des parlamentarischen Untersuchungsausschusses nachzulesen.
Es bestünden „erhebliche Zweifel“ an der tatsächlichen Ausübung der Arbeitsverhältnisse, heißt es weiter, und dass die Firma binnen kurzem die Zahl ihrer MitarbeiterInnen von 13 geringfügig auf mindestens 79 Beschäftigte aufgestockt habe. In seiner Vernehmung wies Bulut „sämtliche Vorwürfe des Jobcenters zurück“, ist in dem über 200-seitigen Abschlussbericht vermerkt.
Mehrere Insider aus Bremerhaven berichten derweil übereinstimmend, dass Buluts Firma beim Jobcenter auf einer „schwarzen Liste“ stehe; offiziell ist das aber nicht. „Das Thema ist sehr komplex“, sagt ein Sprecher des Jobcenters auf Nachfrage. „Aber seit der Aufdeckung von gehäuften Missbrauchsfällen haben wir eine erhöhte Sensibilität prüfen Anträge von EU-Staatsangehörigen bei Auffälligkeiten intensiviert.“
Patrick Öztürk, fraktionsloser SPD-Abgeordneter in der Bremischen Bürgerschaft, und sein Vater Selim Öztürk organisierten in Bremerhaven zwischen 2013 und 2016 mit krimineller Energie ein Betrugssystem, an dem sich beide bereicherten. Zu diesem Ergebnis kam ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss, in dem Patrick Öztürk schwieg.
Eine erhebliche Mitschuld trägt die Untätigkeit und Trägheit der Bremerhavener Behörden.
Mittels zweier von ihnen gegründeter Vereine statteten die Öztürks über 1.000 Zugewanderte mit gefälschten Arbeitsverträgen aus, damit diese Sozialleistungen kassieren konnten und bekamen im Gegenzug Provision. Die Betroffenen waren überwiegend Angehörige einer türkischsprachigen Minderheit aus Bulgarien.
Die Bremer Staatsanwaltschaft hat die Betrugsermittlungen gegen Patrick Öztürk eingestellt, erhob aber Anklage gegen dessen Vater Selim, bei dem sich der Verdacht auf 724-fachen Betrug bestätigt haben soll. Auch werden ihm in 34 Fälle von Untreue vorgeworfen.
Den Schaden, der dem Jobcenter Bremerhaven entstanden ist, beziffert die Staatsanwaltschaft auf 5,5 Millionen Euro.
Benko Aleksev, der schon seit 2007 in Deutschland lebt, hat deswegen vom Jobcenter eine lange Liste mit Papieren und Dokumenten bekommen, die noch einzureichen seien, ehe sein Antrag überhaupt beschieden werden könne. Um sie zu verstehen, braucht er seinen halbwüchsigen Sohn. Derweil zahlt er für seine Drei-Zimmer-Wohnung im Bremerhavener Goethequartier nach eigenen Angaben 630 Euro Miete, plus 110 Euro Nebenkosten. Für einen Internet-Anschluss ist kein Geld da, und für ein Handy für den ältesten Sohn auch nicht.
Das Goethequartier wurde trotz all seiner Gründerzeit-Häuser bundesweit lange als „ärmster Stadtteil Deutschlands“ durch die Presse gereicht, überall wurde von „Schrottimmobilien“ berichtet. Mittlerweile bemüht sich Bremerhaven aber, und, ja: durchaus erfolgreich um Sanierungen, um Aufbruch, um neue Hoffnung in diesem Problemviertel.
Doch immer wieder berichten Insider davon, dass die Firmen, die EU-AusländerInnen Jobs geben, ihnen auch teure Wohnungen bereit stellen. Und Selim Öztürk, der Hauptverdächtige in dem Betrugsfall, soll gar versucht haben, Mehmet Bulut eine Immobilie zu verkaufen – doch der sagte dem Untersuchungsausschuss, er kenne Öztürk gar nicht. Auch Aleksev sagt, er hatte mit den Öztürks nichts zu tun.
Das Jobcenter habe seinen Antrag „abgelehnt, ohne genauer hinzugucken“, sagt Aleksevs Anwalt Gerd Bürsner, und attestiert dem Jobcenter, seit dem Fall Öztürk „übervorsichtig“ zu sein, ja: „überengagiert“. Das Jobcenter habe „keine Belege“ für die Behauptung, dass es sich bei dem Vertrag von Aleksev um ein fingiertes Beschäftigungsverhältnis handele. Deswegen ist er zuversichtlich, dass das Amt am Ende doch zahlen muss. Den Arbeitsvertrag hält Bürsner gleichwohl für rechtlich unzulässig.
Klar, dagegen könnte man klagen. Nur: Aleksev fürchtet dafür zu sehr um seinen Job. Und der 43-jährige hat keinerlei Ausbildung, seine Aussichten auf dem Arbeitsmarkt sind also denkbar schlecht. Zwar könnte seine Frau arbeiten gehen, um Geld hinzu zu verdienen. Aber sie hat keinen Kita-Platz für das jüngste Kind, sagt sie. Also bleibt sie zu Hause. Nach Bulgarien zurück will die Familie aber auch nicht, weil es ihnen hier besser gehe als dort, und den drei Kindern erst recht. „Deutschland: gute Leute hier“, sagt Benko Aleksev.
Deutsche bekämen „natürlich mehr Geld“
Beim Magistrat der Stadt Bremerhaven ist Butlus Firma bekannt. Er habe aber keine Handhabe, gegen die Firma vorzugehen, sagt ein Pressesprecher. Die Stadträtin Claudia Schilling (SPD) werde das Thema aber bei der nächsten Sitzung des Arbeitsgremiums Sozialleistungsmissbrauch auf die Tagesordnung setzen.
Bei der Gewerkschaft Ver.di kennt man die Firma von Bulut gar nicht erst. Statt dessen verweist man auf die IG Bau. Dort bleibt die Presseanfrage unbeantwortet. Aber Menschen wie Aleksev sind eben auch nicht gewerkschaftlich organisiert.
In der Firma arbeiteten viele EU-AusländerInnen, erzählt er, und meist kämen sie aus Südosteuropa. Ein paar Deutsche seien auch darunter, sagt Aleksev, aber die bekämen „natürlich mehr Geld“ als er, für diese „gefährliche Arbeit, bei der es auch oft Unfälle gebe. Die geltenden Arbeitsschutzvorschriften würden „stets eingehalten und überwacht“, versicherte Bulut einst dem Untersuchungsausschuss.
Die Staatsanwaltschaft ermittelt
Seine Firma verklagen will Aleksev nicht: „Ich habe Angst“, sagt er. Manche in Bremerhaven sprechen sogar von einem „Angstsystem“, das um die Betroffenen herum aufgebaut werde. Der Linken-Abeordnete Janßen nennt das Arbeitsverhältnis ein „Abhängigkeitsverhältnis ohne Ausbruchschancen“.
Und Mehmet Bulut, der auf Fragen der taz nicht antwortet? Steht in Bremerhaven als Wohltäter da. Er hilft den Leuten ja. Und wer sonst stellt hier Leute wie Aleksev ein? Sogar in einer eher linken migrantischen Community in Bremerhaven engagiert er sich.
Unterdessen interessiert sich auch die Bremer Staatsanwaltschaft für die Firma von Herrn Bulut. Der Mann sei „nicht unbekannt“, sagt der Behördensprecher, und dass ihn die Staatsanwaltschaft schon kannte, ehe der Untersuchungsausschuss ihn vernahm. Derzeit laufen mehrere Verfahren, es geht um Untreue und um nicht gezahlte Sozialversicherungsbeiträge. Er könne sich gut vorstellen, dass an den Vorwürfen des Jobcenters was dran sein, so der Staatsanwalt. Die Ermittlungen stünden kurz vor dem Abschluss. Demnächst wird entschieden, ob es zur Anklage kommt.
* Name geändert
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rechtspopulistinnen in Europa
Rechts, weiblich, erfolgreich
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
#womeninmalefields Social-Media-Trend
„Ne sorry babe mit Pille spür ich nix“
Landesparteitag
Grünen-Spitze will „Vermieterführerschein“
Die Wahrheit
Herbst des Gerichtsvollziehers