piwik no script img

taz FUTURZWEI

Aus dem Magazin taz FUTURZWEI Wir ist dumm

Das „Wir“ steht für das Große und Ganze, das Gleiche, die Quantität, die Ächtung von Qualität und Differenz. Wer Transformation gelingen lassen will, muss weg vom Großen und Ganzen.

Tom Sawyers Zaunstreichen und die Geschäftsmodelle der Digitalkonzerne haben einiges gemeinsam. Foto: unsplash/Daniel Chekalov

Erste Lektion: Tante Polly, Tom und die paradoxe Intervention

taz FUTURZWEI | Was eine paradoxe Intervention ist, weiß heute jedes Kind, zumal, wenn es aus einem deutschen Bildungsbürgertumshaushalt kommt. Die paradoxe Intervention ist der Gassenhauer unter den alltagspsychologischen Tricks, durch etwas, das man tut, sagt oder anstrebt, das Gegenteil zu erreichen, was wiederum das ist, was man will.

Nehmen wir also einmal an, Mama und Papa möchten gern, dass ihre Kinder sich deutlicher für den Umweltschutz engagieren als durch ein wenig Fridays-for-Future-Schulstreik, was ohnehin out ist mittlerweile.

Sie sagen nicht: Macht mehr fürs Klima! Geht auf die Straße! Sondern sie falten ihre Kinder zusammen: „Seid ihr noch ganz dicht, bei dem Scheiß mitzumachen? Wir kontrollieren jetzt jeden Schritt von euch! Hausarrest!“ Im Normalfall kleben die Kleinen dann am Wochenende am Asphalt eines Flughafens oder einer Autobahnabfahrt, je nachdem, was näher liegt.

Eine paradoxe Intervention kennen wir auch vom sogenannten Sawyer-Modell, benannt nach der Hauptfigur aus Die Abenteuer des Tom Sawyer des amerikanischen Dichters Mark Twain. Tom, der bei seiner Tante Polly lebt, hat wieder mal was ausgefressen, und Tante Polly gibt ihm dafür eine schöne Strafe auf, er soll den langen Zaun rund ums Haus streichen, ein ziemliches Ding. Und das noch dazu am Wochenende, wo er eigentlich mit seinen Kumpels spielen wollte.

So steht er mit sich selbst hadernd vor dem Zaun, Farbtöpfe und Pinsel liegen bereit, und überlegt, wie er diesem Unheil entrinnen kann. Da taucht auch schon ein erster Kumpel auf. Bei Sawyer fällt der Groschen. Als der Freund ihn fragt, ob er mit Spielen komme, winkt Tom nur lässig ab: „Spielen? Nein, ich darf hier den Zaun streichen, das ist das Größte!“

Bild: Katharina Lotter
Wolf Lotter

Wolf Lotter ist Kulturwissenschaftler und Journalist mit den Schwerpunkten Transformation und Innovation.

In der taz FUTURZWEI schreibt er regelmäßig die Kolumne Lotters Transformator.

Er freue sich schon seit Langem drauf, und natürlich habe er für so Kinkerlitzchen wie Kinderspiele keine Zeit, beim besten Willen nicht. Das führt dazu, dass ihm sein Kumpel einen Apfel anbietet, wenn er auch mal streichen darf. Ausnahmsweise, sagt Tom. Dann geht's los. Nach und nach trudeln Sawyers Kollegen ein, und sie alle wollen, was sie sollen. Sie geben Geld und ihren Kram her, und am Ende des Tages ist Sawyer wohlhabend, seine Kumpels glücklich geschafft und der Zaun ohne sein Zutun gestrichen.

Genau so funktioniert das Geschäftsmodell der Plattformen im Web, bei denen die Opfer, alias die User, statt guter Inhalte halt „Content“ abliefern. Zum Verständnis: Content ist der Analogkäse unter den Inhalten.

Aber für Leute, die beispielsweise glauben, dass sie KI klüger und kreativer macht, als sie nun mal sind, reicht das, weil sie es nicht besser wissen und können, und das ist ja nun die Grundlage der ganzen Gesellschaft geworden.

Zweite Lektion: Vornerum, hintenrum. Ein deutsches Thema

Der geschätzte Kollege Peter Unfried hat vor Kurzem in einem Beitrag in dem von Winfried Kretschmann herausgegebenen Büchlein Aus Zuversicht Wirklichkeit machen ganz richtig festgestellt, dass jemand, der Fleisch isst, die Frage eines Vegetariers, warum er das tue, als übergriffig empfinden wird, wenigstens meistens – und sich in der Folge „ein besonders großes Steak bestellt.

Das ist kindisch, aber ich kann nicht garantieren, dass ich es nicht genauso machen würde“, schreibt Unfried, und ich schließe mich dem vollinhaltlich an. So sind „die Leute“, und wir gehören dazu.

Dass es so ist, zeigt die gute alte Realität, und nur sehr ahnungslose Menschen, von denen es heute allerdings auch reichlich gibt, meinen, dass das, was die Leute sagen, auch das ist, was die Leute meinen – und wollen.

Jahrzehntelang wurde davon geredet, wie wichtig der Klimaschutz ist, und jedes Kaff wurde Klimabündnisgemeinde, während die Leute nach wie vor ihr Altöl auf den Acker brachten. Ja, die Digitalisierung, so riefen deutsche Manager und Politiker so laut mit ihren Lohnabhängigen im Chor, weil das davon bewahrte, sich mit der Materie wenigstens so weit auseinanderzusetzen, um zu wissen, was das denn sein könnte, die Digitalisierung, und wie sie wirken würde. Hier ist immer alles anders gemeint, als es gesagt wird! Merken Sie sich das gefälligst!

Die neue taz FUTURZWEI

taz FUTURZWEI, das Magazin für Zukunft – Ausgabe N°31: GEMEINSINN

Gemeinsinn gilt manchen als gut gemeint, salonlinks oder nazimissbraucht. Kann und wie kann Gemeinsinn zur Lösung gesellschaftlicher Probleme beitragen?

Mit Aleida Assmann, Armin Nassehi, Barbara Bleisch, Florian Schroeder, Jagoda Marinić, Wolf Lotter, Heike-Melba Fendel, Florence Gaub, Paulina Unfried, Tim Wiegelmann und Harald Welzer.

Jetzt im taz Shop bestellen

So kommt es, dass es vorneraus immer sehr ehrlich aussieht, aber hintenrum ganz anders gemacht wird.

In der paradoxen Intervention spiegelt sich Bockigkeit und Starrsinn, aber auch viel Ahnungslosigkeit, die sich zu einer Übersprungshandlung hochschaukeln: „Jetzt zeigen wir es denen da oben mal.“

Das ist der soziokulturelle Hintergrund des Pendels, dass seit einigen Jahren umschlägt und jetzt ausschlägt, in Form von AfD und dem neuen Talkshow-Stalinismus der Sahra Wagenknecht, des behäbigen Neins zum Verbrenner-Aus und des Zurück-ins-Büro-ihr-Affen-Gehabe eines industrialistischen Managements, dessen Wesen sich seit mehr als einem Jahrhundert nicht im Geringsten zum Besseren verändert hat. Im Gegenteil.

Dritte Lektion: Hoppla, Intellektuelle merken was!

Das technische Unterfutter der paradoxen Intervention ist ein Konzept des österreichischen Psychiaters Viktor Frankl, des Begründers der Logotherapie, die „paradoxe Intention“.

Dabei geht es darum, den Patienten die Angst vor etwas zu nehmen, indem sie lernen, sich genau das zu wünschen, wovor sie Angst haben. Ein kluger Schachzug Frankls. Wer sich etwas wünscht, egal ob gut oder schlecht, muss sich erst einmal bewusst machen, dass er sich was wünscht, und diesen Gegenstand immer wieder ebenso bewusst aufrufen.

Diese Beschäftigung führt, so Frankl, dazu, dass irrationale Ängste vermindert werden, weil durch die bewusste Beschäftigung mit einem Problem Denkalternativen auftauchen. Die paradoxe Intention malt also den Teufel an die Wand, damit wir dieses Abbild studieren können, mit der Realität vergleichen und damit aus der Angst eine Handlungsalternative entwickeln.

Es gibt immer eine Möglichkeit, sich anders zu entscheiden, Wege zu korrigieren, Alternativen zu finden. Frankls paradoxe Intention ist also mehr als die Mogelpackung der paradoxen Intervention: Sie macht bewusst, was vorher im Nebel lag, sie führt im besten Fall zur Klarheit. Weil – nach Johann Nestroy – zu Tode gefürchtet auch gestorben ist. Aus Ängsten Handlungsalternativen machen, ist eine langsame und nicht leichte, aber wirksame Arbeit. Sie besteht aus jenem „Stückwerk“, wie es der Philosoph Karl Popper in seinem antidogmatischen Meisterwerk Die offene Gesellschaft und ihre Feinde beschrieb, aus jenen Kleinigkeiten, die Mühe machen.

Diese Einsicht ist nicht neu, gerade aber wieder ein bisschen in Mode unter Bessergebildeten, weil sie – immerhin – bemerkt haben, dass doch nicht alle einer Meinung sind, die Sache mit dem Großen und Ganzen also eher ein Salonschwindel war.

Im Gegensatz dazu ist die paradoxe Intention das Handwerk der erfolgreichen Transformation, Veränderung mit realen Erfolgschancen. Es macht aus Angsthasen selbstbewusste Menschen, die ihre Möglichkeiten sortieren – und die das nicht nur für sich tun, sondern auch für andere mit.

Während die paradoxe Intervention irgendwie das alte Hintenrum befördert, ist Frankls Idee auf Selbsterkenntnis und Selbstverantwortung ausgerichtet. Nicht auf das Große und Ganze also, sondern aufs Detail.

Wir nennen das auch Vielfalt, Unterschied, Diversität. Einen eigenen Kopf haben, nonkonformistisch sein. Das Aushalten bei sich und anderen.

Die Frage ist nur: Können wir das?

Vierte Lektion: Der Blick aufs Ganze ward getrübt

Nein, weil das Gehäuse unserer Welt das dumme Wir ist.

Das Wir steht für das Große und Ganze, die Mehrheit, die Masse, das Rollkommando der Quantität gegen jede Qualität und Differenz. Der Unterschied ist der Feind, die anderen, das Böse. Das Wir hält nicht zusammen, es zwingt hinein. Und es gibt Gewissheit, legitimiert das eigene Unglück und Versagen, weil es den anderen doch genauso geht, und das wiederum entlastet kolossal.

In Johannes R. Bechers Winterschlacht, vertont von Hanns Eisler, gibt es die Szene, in der der Mitläufer dem kritischen Betrachter der Ereignisse nach 1933 trotz der vielen Gräueltaten davon redet, „man muss das Ganze sehen“. Das ist eine Paraphrase auf Hitlers Rede in Siemensstadt im November 1933, wo er vor jubelnden Arbeitern sagt: „Vielleicht wird mancher unter ihnen sein, der es mir nicht verzeihen kann, dass ich die marxistischen Parteien vernichtete, aber mein Freund, ich habe die anderen genauso vernichtet.“

Dass die Masse der Arbeiter in dieser großen Fabrikhalle, gewiss sorgsam von wirklichen Regimegegnern gereinigt, daraufhin so losjubelt, ist also erwartbar, denn die Volksgemeinschaft, die Hitler hier beschwört, sie ist das Große und Ganze, die Nation, die Partei, die Gemeinschaft, in der alle aufgehen, ob klein oder groß, dumm oder schlau.

Ihr Leitmotiv ist die Reaktion, denn von selbst wird nichts unternommen, nicht gegen Unrecht, nicht gegen Verfolgung anderer, nicht gegen alles, was von oben nach unten tritt. Das Große und Ganze schließt anderes und Alternativen aus. Es hasst Veränderungen, Eigenbewegungen und Selbstbestimmtheit.

Das ist die deutsche Leitkultur, der Biedermeier, den es vor und nach Hitler gab und der wieder auflebt heutzutage – und das steht hier nicht nur, weil es nachhaltig antidemokratische Parteien auf zweistellige Rekordergebnisse bringen, sondern auch, weil deren demokratische Mitbewerber sofort in den Wir-gegen-die-Modus umschalten. Das ist die paradoxe Intervention der linken und rechten Totalitären von heute, ihre demokratischen Gegner zu dem zu machen, was sie schon sind, zu geschlossenen Anstalten, in denen alles alternativlos wird.

Erst wenn die ganze Kiste brennt, alles heillos verloren ist, dann wird das vielleicht bemerkt, denn dann, so Becher in der Winterschlacht, also der Niederlage bei Stalingrad, „ward der Blick aufs Ganze getrübt“ – doch dann ist meist schon Ende Gelände.

Fünfte Lektion: Unterschiede sind toll, aber anstrengend

Das Große und Ganze ist totalitär, natürlich. Es hat sich geformt in einer Welt, in der es keinen Gott geben durfte neben dem, der einem vorgesetzt wurde und Widerworte gegen die Obrigkeit am Schafott oder im Zwangsarbeitslager endeten, die auch von denen betrieben wurden, die Becher hasste, aber eben auch von jenen, denen er diente.

Echte Diversität ist natürlich Selbstverantwortung und Selbstbestimmung, was sonst, und viele wissen das auch. Dass Parteien eine immer kleinere Rolle spielen in der Gesellschaft, das hat auch damit zu tun, dass niemand ihnen ihre Dogmatik, ihren Gruppendruck, ihre Parteidisziplin und den ganzen großen und ganzen Blödsinn der Alternativlosigkeit zum eigenen Programm austreiben kann, ohne dass das Ding dabei kaputtgeht.

Das Gleiche geschieht auch in Unternehmen und Organisationen, die ihre Unternehmenskultur wie eine Monstranz vor sich hertragen, damit alle, die dort einfach nur ihre Arbeit machen, auch ideologisch eingenordet werden.

Das nervt die Leute. Ständig hält ihnen jemand den Parteibeschluss vor die Nase, das Compliance-Papier, die Verhaltensregeln, deren wichtigster Schutz nur sehr gelegentlich der oder die schwache Einzelne ist, während es fast immer um das Eingemeinden unterschiedlicher Meinungen, Standpunkte und Ideen geht. Darunter leidet allerdings auch, wie man auf Neudeutsch sagt, die Performance.

Wir leben längst in einer Wissensökonomie, auch wenn das so viele in Deutschland immer noch nicht wahrhaben wollen. Weil es die eigenen Gewohnheiten des Großen und Ganzen zerstört. Wer in einer solchen Welt alles passend machen will, verliert. Das ist ja schon längst sichtbar. Deutschlands eiserne Industriekultur, die wiederum in Massenbewusstsein und Einheitsdenken wurzelt, macht das Land kaputt.

Es sind nicht die Fabriken, es ist die Art und Weise, wie sie betrieben werden, gedacht, „gemanaged“, das neudeutsche Wort dafür also, dass sich nichts ändern darf und alles „am Laufen gehalten“ werden muss, ein naives Weltbild für Reservekonservative, die Fortschritt und Neuartigkeit scheuen.

Innovationen und Ideen, kreatives Wissen, das weiterhilft, muss immer erst gegen das Etablierte antreten, also jenes Große und Ganze, das irrtümlicherweise auch als Mitte daherkommt, aber nichts anderes ist als der alte industrialistische Zombie der Einheit und falschen Gleichmacherei.

Zwischen manchen Hitlerreden und den betulichen Appellationen an ein neues Wir liegt gar nicht so viel. Nahezu alle Fortschritte, vor allem auch die sozialen und kulturellen, sind ein Ergebnis von Widerstand, Individualität, Kreativität, das heute wieder auf ein dumpfes Großes und Ganzes prallt, das alles entschuldigt – die Faulheit, die Feigheit, die Dummheit, das Rückwärtsgewandte.

Transformation ist deshalb so anstrengend, weil sie sich nicht in Einheitslehren, sondern in der Erschließung von Komplexität übt, das ist ihr Geschäft. Sie macht das Schwierige nicht durch Weglassen leicht, sondern durch Nachdenken. Die Alternative für Verbrenner sind nicht E-Autos für alle, sondern eine vielfältige Verkehrsinfrastruktur. Sie beseitigt die Angst durch konkrete Beschäftigung mit deren Ursachen. Bei den Angstmachern – die längst nicht nur an den extremen Rändern werken – fängt das an. Ausgrenzung und Einheitswahn machten den Totalitarismus groß, immer schon, aber sie wuchsen auf dem, was uns als richtig schien, im Großen und Ganzen.

Das ist, gerade in Zeiten wie diesen, so verdrängt und so missliebig bei vielen, dass es den wahren Nährboden für die Extremisten ausmacht, die heute, wie oft, die sind, die wollen, dass alles so bleibt, wie es ist.

Wer, wenn nicht „wir“, sollte darüber einmal gründlich nachdenken.

WOLF LOTTER: Unterschiede. Wie Vielfalt für Gerechtigkeit sorgt. Edition Körber 2022 - 328 Seiten, 20 Euro

Dieser Artikel ist im Dezember 2024 in unserem Magazin taz FUTURZWEI erschienen. Lesen Sie weiter: Die aktuelle Ausgabe taz FUTURZWEI N°31 mit dem Titelthema „Gemeinsinn“ gibt es jetzt im taz Shop.