Aufstiegschancen in Deutschland: Jung, eingewandert, ausgebremst

Junge Migranten in Berlin scheitern eher in der Schule als Einwanderer in Paris, fand das DIW heraus. Viele deutsche Migranten holen aber später das Abitur nach.

Im ersten Anlauf geschafft: Der deutsch-britische Ministerpräsident von Niedersachsen, David McAllister (CDU), machte 1989 sein Abitur. Bild: dpa

BERLIN taz | Ideal sind die Bildungs- und Arbeitsmarktchancen für die Nachkommen von Migranten weder in Deutschland noch in Frankreich - doch beim gerechten Zugang zum Bildungssystem kann Deutschland einer Studie zufolge einiges von seinem Nachbarn lernen. "Französische Migrantenkinder schaffen es viel leichter zum Abitur als deutsche", sagt die Soziologin Ingrid Tucci. Die Wissenschaftlerin am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung Berlin (DIW) hat drei Jahre lang beobachtet, welche beruflichen Karrieren Jugendliche in einer Pariser Vorstadt und in der Berliner Großwohnsiedlung Gropiusstadt einschlagen. Ihr Fazit: Das selektive deutsche Schulsystem bremst Migranten eklatant aus; doch wer zunächst durchfällt, erhält später leichter eine zweite Chance auf dem Bildungs- und Arbeitsmarkt.

Die Studie, die der taz vorab vorliegt, wird am Mittwoch veröffentlicht. Neu an ihr ist vor allem die untersuchte Zeitspanne: Gemeinsam mit drei Kollegen führte Ingrid Tucci 175 qualitative Interviews in Paris und Berlin und analysierte ihre Biografien über drei Jahre. "Wir wollten nicht nur den Status quo festhalten, sondern sehen, wie sich Karrieren entwickeln." Tucci hat selbst französische Wurzeln und lebt seit fast 20 Jahren in Deutschland.

"Zunächst einmal haben wir gesehen, wie früh die Bildungskarriere in Deutschland in eine einzige Richtung gelenkt wird", sagt Tucci. "In Frankreich lernt man länger gemeinsam." Mit der Zeit sei aber auch deutlich geworden, dass die Einwanderer in Deutschland mehr in die Institutionen vertrauen. "Das ist eigentlich ein Widerspruch, aber es ist gut - denn es schafft ein gewisses Gleichgewicht in der Gesellschaft." Wer scheitere, könne immer noch später sein Abitur, einen anderen Schulabschluss oder eine Berufsausbildung nachmachen - und ergreife diese Chance auch. Wer in Frankreich durchs Abitur oder von der Realschule fliege, entwickele hingegen oft einen regelrechten Hass auf Staat und Gemeinschaft. Tucci verweist auf die Unruhen in den Pariser Vorstädten, die auf solcher Perspektivlosigkeit ganzer Bevölkerungsgruppen gründeten.

Eine zweite Chance

Diese Möglichkeiten der "zweiten Chance" in Deutschland gelte es auszubauen, fordert die Soziologin. "Es müssen Personen da sein, die solche Perspektiven aufzeigen." Tucci wehrt sich gegen den Vorwurf, die Politik mit solch privatem Engagement aus der Pflicht zu entlassen. Wichtig seien grundsätzlich gemeinsame Anstrengungen, sagt sie. Die Befragungen hätten gezeigt, dass ein Vorstoß allein wenig bringe.

Mentoren, die Migranten in ihrer Jugendphase prägen, müssten nicht unbedingt Lehrer oder Eltern sein; auch ehrenamtlich arbeitende Manager oder andere Menschen aus dem sozialen Umfeld kämen in Frage. Gerade in Frankreich habe es sich als positiv erwiesen, wenn so eine Bezugsperson von außen komme. "Viele Migrantenkinder bewegen sich nie aus ihren Vorstädten heraus und lernen nur durch Mentoren oder Betreuer andere Milieus kennen", erklärt Tucci.

Erstrebenswert wäre, dass sich die sozialen Wirklichkeiten mehr mischen und sich gar nicht erst solche Inseln der Perspektivlosigkeit innerhalb der Stadt bilden. Tucci glaubt allerdings nicht, dass sich dies realisieren lasse: "Die Frage ist, wie man das macht - welcher Bessergestellte schickt sein Kind schon freiwillig in eine Schule im sozialen Brennpunkt?"

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