Aufstieg in die Erste Bundesliga: Peu à peu nach vorne gearbeitet
Der SV Darmstadt 98 hat es wieder getan: Nach 2017 sind die Südhessen zurück. Trainer Torsten Lieberknecht hat mit so etwas Erfahrung.
Im ersten Moment war gar nicht so klar, ob mehr Bier oder mehr Tränen flossen. Etliche Fans, aber auch die eigentlichen Protagonisten im Stadion am Böllenfalltor weinten jedenfalls hemmungslos, als der Ausnahmezustand nach einem friedlichen Platzsturm um sich griff. Das ganze Wochenende widmete Darmstadt seinen Lilien, die nach sechs Jahren wieder die Bundesliga bereichern wollen.
Mit einer Aura, die noch etwas Anarchisches besitzt. „Ein Traum, der in Erfüllung geht“, stammelte Torwart Marcel Schuhen, dessen Paraden am Freitagabend den Zittersieg gegen den 1. FC Magdeburg (1:0) sicherten. Ehe der 30-Jährige mit der Menge feierte, sagte er noch, er habe „einen vernünftigen Job“ gemacht, was gewaltig untertrieben war. Ein Verein mit mittelgroßem Etat kommt nicht hoch, wenn nicht alle in einer Saison über sich hinauswachsen. Vom Torwart bis zum Präsidenten.
Letzterer heißt Rüdiger Fritsch und findet auch in turbulenten Zeiten die richtigen Worte. „Jetzt ist Klein Darmstadt da, und ich erwarte Respekt dafür“, stellte er klar. Der Wirtschaftsanwalt führt den Klub seit 2012 mit weitreichenden Befugnissen. „Für uns ist das wie für andere die Champions League. Von außen kann das keiner richtig schätzen, wie viel Kraft, Energie und auch Tränen reingesteckt werden, um so etwas zu erreichen“, erklärte Fritsch. „Wir haben es die letzten Jahre als Lilien-Familie nicht so schlecht gemacht.“
Der SV Darmstadt 98 hatten sich unter seiner Regentschaft 2015 bis 2017 eher zufällig in die Bundesliga verirrt, als die Strukturen eigentlich noch amateurhaft waren. „Damals hatten wir den kleinsten Etat, das hässlichste Stadion“, sagte der 61-Jährige, „jetzt haben wir uns peu à peu nach vorne gearbeitet und Substanz aufgebaut.“
Darmstadt für einen bodenständigen Charme
Sein Weitblick wird derart geschätzt, dass Fritsch auch in der AG Zukunftsszenarien der Deutschen Fußball Liga (DFL) sitzt, die das am Mittwoch zur Abstimmung stehende Investorenmodell entworfen hat. Der Mann weiß, dass Tradition allein keine Tore schießt, deshalb hatte er früh darauf gedrungen, dass das marode Stadion endlich saniert wird. Nun ist das Schmuckkästchen mit seinen knapp 18.000 Plätzen punktgenau zum vierten Bundesliga-Aufstieg fertig.
Künftig weist die Erstliga-Landkarte ein Dreieck im wirtschaftsstarken Ballungsraum des Rhein-Main-Gebiets aus: Frankfurt, Mainz und Darmstadt sind mit der S-Bahn jeweils in weniger als einer Dreiviertelstunde zu erreichen. Im Vergleich zu den zwei anderen Städten steht Darmstadt mit seinen 160.000 Einwohnern eher für einen bodenständigen Charme.
Und vielleicht passt deshalb Trainer Torsten Lieberknecht hier so gut hin. Ihn 2021 zu verpflichten, als Markus Anfang lieber zum Absteiger Werder Bremen weiterzog, erwies sich als Glücksfall: Lieberknechts größte Leistung war, dass seine Spieler immer den Glauben behielten, trotz einer mitunter surreal anmutenden Verletztenliste.
Auf viel Engagement und Leidenschaft setzen
Er habe dafür „manchmal schauspielern“ müssen, verriet der gebürtige Pfälzer, der nach eigenem Bekunden „komplett leer“ war. Und doch vergaß er bei allen Emotionen nicht, dem Kollegen und Vorgänger Dirk Schuster zu danken, der mit dem „Wunder von Bielefeld“, dem Aufstieg via Relegation in die Zweite Liga 2014, die Grundlagen gelegt hatte.
Herzwärme ist dem 49-Jährigen extrem wichtig, sonst wäre Lieberknecht nicht so lange bei Eintracht Braunschweig geblieben, wo er vor zehn Jahren schon mal auf ähnliche Art und Weise in die Bundesliga einzog. „Ich hätte nie gedacht, dass ich nach Braunschweig noch einmal so etwas finde“, sagte er sichtlich gerührt. Er setzte auf viel Engagement und Leidenschaft, aber auch reichlich Understatement und Demut. Große Töne haben die Lilien erst gespuckt, als es vollbracht war. Vorher nie. Und das unterscheidet sie eben vom viel besser ausgestatteten Hamburger SV, der mit einem fast doppelt so hohen Budget hantiert.
Keinen freut das vielleicht innerlich mehr als Carsten Wehlmann, einen gebürtigen Hamburger, der für den FC St. Pauli und den HSV als Torhüter gespielt hat, dann lange als Scout bei Holstein Kiel bereits die Nischen der Zweiten Liga durchforstete, ehe er im Februar 2019 in Darmstadt anheuerte. Der nüchterne Sportdirektor bildet eine weitere Schlüsselpersonalie. Der 50-Jährige hat ein Näschen für die richtigen Personalentscheidungen.
Torjäger Phillip Tietz beispielsweise kam vom Drittligisten und Nachbarn SV Wehen Wiesbaden. Die Nummer neun war auch am 33. Spieltag derjenige, dem das goldene Tor gelang. Bereits mit dem blauen „Uffstiesch“-T-Shirt ausgestattet, erklärte Tietz den Coup so: „Wir sind ein geiler Haufen.“ Aus dem Gebrüll waren durchaus Komplimente für einen Kader herauszuhören, dessen Gerüst es kaum erwarten kann, sich bald in der Bundesliga zu beweisen.
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