: Aufschwung Most
Pack die Streuobstwiese in den Tank. Aus biblisch-sündiger Frucht mosten drei Hamburger Minibetriebe ihren Apfelsaft mit akribischer Hingabe wie die Spitzenwinzer ihren Wein
von URSULA HEINZELMANN
Der Durst meiner Kindheit wurde aus dunkelbraunen Apfelsaftflaschen mit goldenen Kronkorken gestillt. Fanta und Cola gab es ebenso wenig wie Fernseher und Telefon. Aber bei regelmäßigen Sonntagsausflügen zu den Großeltern, die in einem Haus mit großem Garten am Stadtrand lebten, wurde ich für die „Entbehrungen“ mit frischem Obst und Gemüse entschädigt. Meine Lieblingsapfelsorte war der Hasenkopf, dessen treffender Name mir als mysteriöse Vermischung von Tier- und Pflanzenwelt lange und viel zu denken gab. Später verschlug mich das Schicksal an den Bodensee, und aus den Hasenköpfen wurden bei den schwäbischen Verwandten Schafsnasen. Meine bevorzugte Jahreszeit war der Herbst, mit langen Radtouren durch die Obstgärten entlang des Sees. An jedem Hoftor standen ein paar Kisten unterschiedlichster Apfelsorten und daneben eine kleine Kasse: Fastfood – ready to eat!
Heute ist mir die Apfellust vergangen, wenn ich im Supermarkt meinen Wagen an plastikartigen, einheitlich glänzenden Früchten vorbeischiebe. Apfelsaft schmeckt nur noch süßsauer. Was ist aus der Frucht geworden, auf der so viel von unserer Geschichte und Kultur basiert?
Sicher, die Story von Adam und Eva und der Schlange beruht auf einem Übersetzungsfehler, der aus dem Bösen, malum, kurzerhand den Apfel, malus, machte, während eigentlich nur von der Frucht ganz allgemein die Rede ist. Doch lange vor dem Baum der Erkenntnis trafen acht Paar Chromosomen einer winzigen Pflaume aus der Familie der Rosengewächse auf neun der Mädesüßblume. Aus dieser Zufallsbegegnung in der Steinzeit, irgendwo in den Urwäldern Kasachstans, entsprang Malus, der Stammvater aller Äpfel. Bei den Assyrern und Ägyptern ist er bereits zum Liebessymbol avanciert. Bei den Griechen plagt sich Paris bei der Wahl zwischen drei Göttinnen mit malum discordiae, dem Apfel der Zwietracht. In England fällt er Herrn Newton auf den Kopf und wird zur unerwarteten, wenn auch schmerzhaften wissenschaftlichen Inspiration, während Herr Tell Schießübungen veranstaltet. Und was sagt Goethe? „Über Rosen läßt sich dichten, in Äpfel muß man beißen!“ Damals dachte er sicher an die Rote Sternrenette, die Goldparmäne oder den Gelben Edelapfel. Wer will schon in Golden Delicious beißen?
„Makelloses Aussehen und unbegrenzte Haltbarkeit sind dem Verbraucher als Qualität suggeriert worden“, sagt Uwe Engelmann. Wir stehen bei strömendem Regen am Hamburger Freilichtmuseum Kiekeberg. Engelmann bietet den Besuchern einer Slowfood-Veranstaltung Apfelsaft an, er betreibt in Fintel, unweit der Hansestadt, eine kleine Mosterei. „Möchten Sie probieren?“, fragt er und schenkt einen dunkelorangegelben, leicht trüben Saft ein. Aus reiner Gewohnheit rieche ich zuerst am Glas – und bin vollkommen überrascht. Ein ganzer Früchtekorb an Aromen: Ananas, Apfelsinen, Aprikosen. Ich probiere den Saft wie hochwertigen Wein und vergesse Regen und Kälte. Zu den vielen Fruchtaromen gesellt sich eine tolle Würze. Süße und Säure ergänzen sich zu einem harmonischen Ganzen, das lange, lange anhält. Das hat nichts mit fadem Plantagen-Delicious zu tun! „Nein, nein“, bestätigt der wettergegerbte Engelmann, „das ist eine der wenigen Apfelsorten, die sich zum reinsortigen Vermosten eignet, der Finkenwerder Herbstprinz. Probieren Sie dagegen einen Jamba!“ Ganz anders, zurückhaltend im Aroma, quasi leichter, aber glockenhell.
Wenn die Apfelsorte eine so entscheidende Rolle spielt, wie steht es dann mit Standort, Klima, Jahrgang und Herstellungsmethode? „Eigentlich ist alles ganz einfach“, sagt Engelmann, „wir verwenden nur Äpfel von alten Streuobstwiesen, die weder gespritzt noch gedüngt werden.“ Der Herbstprinz braucht viel Luftfeuchtigkeit, wie er sie an der Niederelbe findet. Boskop eignet sich auch sehr gut, und manchmal findet man auch noch Jakob Lebel, eine alte Wirtschaftsapfelsorte.
Und so entsteht sein Saft: Die Äpfel werden gewaschen und zerkleinert, das heißt gemahlen. Dann werden sie in einer 2.500-Kilo-Packpresse zehn Minuten kalt gepresst. Der Pressmost wird zentrifugiert, um ihn vom gröbsten Trub zu trennen, anschließend in einem Durchflusserhitzer schnell und kurz auf 83 bis 85 Grad erwärmt und direkt in Flaschen gefüllt. Fauliges, grünes oder überreifes Obst kommt Engelmann nicht ins Fässchen.
„Ich bin immer am Experimentieren, um das Äußerste an Geschmack rauszuholen. Man muss auch Risiken eingehen. Eine gewisse Menge Trub ist notwendig, aber nicht zu viel. Wenn die Trubpartikel zu groß sind, werden sie nicht durcherhitzt, und der Saft verdirbt.“ Engelmann arbeitet ohne Enzyme und Zusatzstoffe, die die Saftausbeute erhöhen, und ohne Ascorbinsäure zur Konservierung. „Wenn die Äpfel gut sind und man richtig arbeitet, ist das nicht nötig.“
Und die Jahrgänge? „Natürlich gibt es Unterschiede: In einem kühlen, feuchten Jahr schmeckt der Saft anders als in einem heißen.“ Warum dann keine Jahrgangsangaben? „Das ist bei uns nicht nötig, weil wir sehr engen Kundenkontakt haben; die meisten kommen zu uns auf den Hof.“ Der Betrieb produziert 40.000 Liter im Jahr. Und er sorgt nebenbei für den Erhalt von Kulturlandschaften: alte Apfelbäume auf Bauernwiesen. Kann man davon leben? „Das wäre knapp!“ Autodidakt Engelmann, der vor zwölf Jahren aus Zufall zur Mosterei kam, arbeitet noch in seinem alten Beruf als Schwimmbad-Installateur. Inzwischen ist die Sonne herausgekommen, und am Stand wird es voll. Ich überlasse die Engelmanns ihren Kunden und wandere weiter über den Markt.
40.000 Liter pro Jahr sind nur ein verschwindender Tropfen im deutschen Apfelsaftmeer. 450 Firmen produzieren eine Milliarde Liter, die sieben größten Betriebe allein sechzig Prozent! Die Großen arbeiten häufig mit Saftkonzentrat aus „ausgewählten“ Anbauregionen. In einer Broschüre stolpere ich über den Satz: „hundertprozentiger Apfelsaft wird auch aus natürlichem (!) Apfelsaftkonzentrat produziert. Zur Konzentratherstellung wird dem frisch gepressten Apfelsaft in einem Vakuumverdampfer Wasser entzogen. Soll aus dem Apfelsaftkonzentrat wieder Saft hergestellt werden, fügt man ihm die entzogene Flüssigkeit durch die gleiche Menge Trinkwasser wieder zu. Der so gewonnene Apfelsaft ist dem direkt abgefüllten Saft durchaus (!) ebenbürtig.“ Warum dann der Aufwand? Es geht um geringere Lager- und Transportkosten. Eingedampfter Saft braucht weniger Lastwagen als natürlicher. Die billigste Quelle für Apfelsaftkonzentrat soll übrigens China sein.
Nicht billig, dafür aber gut sind zwei andere Erzeuger: Bernd Velke ist Geschäftsführer der Lütauer Süßmosterei. Mit 570.000 Litern Apfelsaft aus Streuobst und einem breiten Angebot anderer Säfte stellt er ein immer noch kleines, aber doch erkennbares Pünktchen in der deutschen Saftlandschaft dar. Ein echter Zwergenbetrieb ist die Mosterei der Familie Marquardt in Reinbek mit rund fünftausend Litern Saft, darunter neun reinsortige Gewächse. Auch bei diesen Betrieben wird deutlich, dass Industrialisierung und echte geschmackliche Qualität nicht zusammenpassen. Jetzt muss die Blindprobe zeigen, wie gut die Säfte wirklich sind (siehe unten). Die Äpfel reizen mich wieder.
URSULA HEINZELMANN, 37, ist gelernte Sommelière und Gastronomin. Sie arbeitet als Autorin und führt zusammen mit Philippe Causse den Spezialitätenladen “Maître Philippe“ in Berlin-Wilmersdorf
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