Auf Fernwanderwegen durch Europa: Der Flow auf dem E-path
In Europa gibt es zwölf Fernwanderwege, kurz: E-Wege oder E-paths. Ideal für lange Auszeiten.
Sie geht und geht und geht. Christine Thürmer, „meist gewanderte Frau der Welt“, im Wandermilieu gut bekannt als „German Tourist“ (so ihr Trailname), ist das bekannteste Gesicht des Fernwanderns. Ihre langjährige Präsenz in den sozialen Medien, wo sie von unterwegs berichtet, aber vor allem drei Beststeller auf dem Buchmarkt haben sie bekannt gemacht. Seit 2007 hat sie rund 60.000 Kilometer Fernwanderwege hinter sich. Darunter den US-amerikanischen Pacific Crest Trail, den Continental Divide Trail, den Appalachian Trail. Europa durchwanderte sie von Süd nach Nord und von West nach Ost. Von Tarifa zum Nordkap und von Santiago de Compostela bis zum Schwarzen Meer waren es sechzehn Länder. Und, keine Frage: damit ist es längst nicht genug. Der Lebensstil eines Thruhikers mache einen, so Christine Thürmer im Interview, „für die normale Welt inkompatibel“.
Im Universum der Fernwanderer gibt es kein Ende, sondern immer wieder spektakuläre Wege. Je länger, desto besser. Allein in Europa gibt es zwölf dieser Fernwanderwege, kurz: E-Wege oder E-paths. Alles Langstrecken, die Träume wecken, denn sie führen durch großartige Landschaften, durch Nationalparks und das Welterbe, sie durchmessen den europäischen Kontinent und lassen schlicht vergessen, dass dieser vergleichsweise kleine Kontinent eigentlich dicht besiedelt und von lärmigen Verkehrsadern durchzogen ist und hier alle Welt am Rasen ist. Aber Wanderer folgen Markierungen in Wald und Flur. Und zwar zu Fuß.
Dem E1 etwa. Er führt quasi lotrecht durch Europa. Er durchmisst alle europäischen Klimazonen. Wer am Polarkreis startet, erreicht auf halber Strecke auch Deutschland und den schon 1929 konzipierten Nordsee-Bodensee-Weg. Die Alpenüberquerung auf der Sankt-Gotthard-Route ist ein ewiger Hit unter Bergfreunden. Und mit Italien wird das ewige Sehnsuchtsland der Nordländer erreicht. Der lange Weg durch Italien endet auf Sizilien.
Quer durch Europa führt der längste der E-Wege, der E4 (rund 11.000 km): Er schlägt einen großen südlichen Bogen von Portugal aus durch Andalusien/Spanien und Frankreich, die Schweiz und Österreich, und im Osten verläuft er durch Ungarn, Rumänien, Serbien, Bulgarien und nach Griechenland. Das Cabo San Vincente am äußersten südwestlichen Ende des Kontinents ist sein Ausgangspunkt, sein Ende sind die Inseln Kreta und Zypern im östlichen Mittelmeer. Er überquert die Pyrenäen und führt durch die alpinen Regionen Europas, er hat u.a. den historischen Jura-Höhenweg auf seiner Route und die berühmte Samaria-Schlucht auf Kreta.
Eine lange Geschichte
Auch der berühmte spanische Pilgerweg Camino de Santiago ist Teilstück eines E-Weges, dem E3. Dieser E-Weg führt auch mitten durch Deutschland. Bei Bacharach überquert er den Rhein. Er endet am Kap Emine am Schwarzen Meer.
Schon die Idee für den Aufbau dieser Wege glich einem Traum. Er ging mehr oder weniger gut in Erfüllung. Und auch das war nicht selbstverständlich. Als sich 1969 die Europäische Wandervereinigung begründete, war eine „Europäische Union“ noch Zukunftsmusik, Pass- und Zollschranken innerhalb Europas waren hoch und am Eisernen Vorhang schieden sich die Welten. Bei der Gründung gaben sich die Wanderfreunde dreisprachig als European Ramblers’ Association (era) / Europäische Wandervereinigung (ewv) / Federation Europeenne de la Randonnee Pedestre (ferp). Es war – nach dem verheerenden Zweiten Weltkrieg – ein Projekt in der Hoffnung auf bessere Zeiten.
Wer heute auf E-Wegen wandert, hat auch die Historie von weit über hundert Jahren Wanderbewegung unter seinen Füßen. Egal, wo die unterschiedlichsten Gruppierungen politisch angesiedelt waren oder man sich in Gebirgs-, Naturfreunde- oder heimatlichen Wandervereinen organisiert hatte, allen ging es immer um Wegefreiheit und den freien Zugang zur Natur. Mit der Idee der grenzüberschreitenden Fernwanderwege ging es dann dezidiert um Völkerverständigung. Aber erst mit dem Fall des Eisernen Vorhangs 1989 wurde auch die Verbindung mit vielen mitgliederstarken Organisationen in Osteuropa möglich und mit der Ausweitung der E-Wege ging es flott voran. Die Dachorganisation zählt heute 66 Wanderorganisationen aus 35 europäischen Staaten und insgesamt 3 Millionen Einzelmitglieder. Ihr Sitz ist immer noch Kassel, das Büro befindet sich in Prag, der jetzige Präsident kommt aus Serbien.
50 Jahre ist es jetzt her, dass die beiden ersten E-Wege eröffnet wurden. 2022 ist für die europäische Wanderbewegung ein Jubiläumsjahr, in dem 50 Jahre E-Wege mit zahlreichen Veranstaltungen gefeiert werden. Darüber hinaus wurde ein Programm gestartet, jährlich einen der E-Wege zu „besichtigen“, also zu begehen und öffentlichkeitswirksam zu begleiten. Der E1 macht den Anfang.
Zuletzt kam der E12 zum vorhandenen Wegenetz hinzu. Ein Küsten- bzw. Mittelmeerweg. Er startet im spanischen Tarifa und will die Küstenregionen Südeuropas untereinander verbinden. Perfekt ist noch nichts. Aber perfekt sind auch viele der alten Wege nicht, große Teilabschnitte in entfernten Regionen sind immer noch in Planung, sie sind weder endgültig ausgewiesen, geschweige denn markiert oder sogar zertifiziert. Ohnehin ist nicht jeder E-Weg durchgängig mit dem Europazeichen markiert. Sofern er auf großen nationalen Routen verläuft, gelten häufig die nationalen Markierungen. Vieles besteht nur auf dem Papier. Wer neueste Daten zu Wegeverläufen sucht, der solle besser ins Internet gehen, rät der Wanderverband in Kassel. Etwa auf die Websites von hiking.waymarkedtrails.org oder von traildino.com. Denn die Wegearbeit sei eigentlich ehrenamtlich und kaum zu bewältigen. Und den Vereinen, die die Wege betreuen, mangele es an Nachwuchs.
Tipps in Foren und Blogs
Wurden die ersten sechs E-Wege noch ausführlich von Publikationen im damaligen Wanderverlag begleitet, so ist heute die Website der Europäischen Wandervereinigung (www.era-ewv-ferp.org) die erste und umfänglichste Adresse. Unverzichtbar sind inzwischen auch die großen Outdoorforen, ebenso die Foren und Blogs von Ultralight-Trekkern. Hier kann jeder von Erfahrungen aus erster Hand profitieren.
Der Buchmarkt bietet vor allem Highlights der Europawege, etwa unter „Legendäre Wanderrouten in Europa“, oder „Die Schönsten …“ oder „Die Besten …“ Es sind Anregungen für einen anspruchsvollen Erlebnisurlaub in spektakulärer Umgebung, die zum Lifestyle outdoorbegeisterter Normalmenschen passen. Eher selten macht man sich auf diese Wege allein auf, sondern zumeist in Gruppen mit Reiseveranstaltern.
Und wenn lange Wandertouren mit längeren persönlichen Auszeiten verknüpft werden, dann sind vor allem die spanischen und französischen Pilgerwege mit ihrer hervorragenden Infrastruktur und den kommunikativen Möglichkeiten gefragt. Ein vergleichsweise leichter und gut besuchter Weg, sei es unter Pilgern ans spanische Ende der Welt oder mit Bergfans über die europäischen Alpen, ein perfekt markiertes Wegenetz und ausreichende bzw. preiswerte Übernachtungsmöglichkeiten in Hütten, Jugendherbergen oder Pilgerherbergen machen einen Einstieg in lange Wanderungen leichter. Ohne diese guten Wege keine enthusiastischen Fernwanderer.
Dennoch träumen viele immer wieder den Traum, morgens die Haustür zu schließen und einfach drauf loszugehen. Oder einer Markierung im Wald zu folgen, die einen einfachen Fußweg zum nächsten Meer verspricht – auch wenn der versprochene Strand noch 1.000 Kilometer weit entfernt ist. Immer wieder lockt die Alternative. Aber jeder ahnt auch die Mühe und die Qualen, die einen bis dahin erwarten.
Denn Wandern ist „Blut, Schweiß und Tränen,“ weiß Christine Thürmer, „man stelle sich nur vor, es geht einem schlecht – und dann eine Woche Dauerregen, Blasen an den Füßen, und das Essen ist scheiße....“ Vor allem muss man sich selbst gut riechen können nach vielen Tagen im Dreck ohne Waschmöglichkeiten oder frischer Kleidung. Und sie rät allen, die losgehen, dabei bloß nicht „sich selbst suchen“ zu wollen.
Auf die Frage, was sie süchtig nach Wandern mache, nannte Christine Thürmer einer Reporterin drei Gründe: erstens den „Flow“ beim Wandern (das mache „grundglücklich“), zweitens den „Glücksflash“, den etwa eine warme Dusche auslösen könne, und drittens „alle Zeit der Welt“ zu haben und darüber entscheiden zu können, „worüber ich abends in meinem Zelt nachdenken werde.“
So oder so ähnlich berichten alle überzeugten Fernwanderer. Ein berühmter Vorgänger der heutigen Langstreckenwanderer, Johann Gottfried Seume, der im Winter 1801/1802 von Grimma bei Leipzig nach Syrakus auf Sizilien ging, meinte schlicht, er habe das Bedürfnis, sich „das Zwerchfell auseinander zu wandeln“.
Gut zu wissen, dass es dafür die Wege gibt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ungerechtigkeit in Deutschland
Her mit dem schönen Leben!
Kompromiss oder Konfrontation?
Flexible Mehrheiten werden nötiger, das ist vielleicht gut
Der Check
Verschärft Migration den Mangel an Fachkräften?
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
FDP-Krise nach „Dday“-Papier
Ex-Justizminister Buschmann wird neuer FDP-Generalsekretär
Eine Chauffeurin erzählt
„Du überholst mich nicht“