■ Auch nach dem Tirana-Einsatz steht eine Grundsatzdebatte über die Rolle des deutschen Militärs noch aus. Der Bundesregierung scheint das ganz recht zu sein: Bundeswehr als Bundesmacht?
Die Beteiligung der Bundeswehr an der Evakuierung von Deutschen und anderen Ausländern aus der albanischen Hauptstadt Tirana war letzte Woche schnell befohlen und schnell durchgeführt. Es war die Stunde der Exekutive. Für den Bundestag blieb gestern die parlamentarische Nachbereitung. Die Abgeordneten beschränkten sich auf den aktuellen Fall Tirana und erörterten – erleichtert, da glücklicherweise alles gut geendet war – mögliche Eventualitäten in anderen Fällen. Dabei hätte aus mindestens drei Gründen Anlaß bestanden, sich grundsätzliche Gedanken über die zukünftige Rolle der Bundeswehr zu machen.
Denn erstens werden seit kurzem mit der Teilnahme der Bundeswehr an den internationalen Stabilisierungsstreitkräften für Bosnien (SFOR) Bundeswehreinheiten mit einem Auftrag eingesetzt, bei dem nun, jenseits der Landesverteidigung und außerhalb des Nato-Gebiets, erstmalig auch eindeutige Kampfeinsätze vorgesehen sind. Der Einsatz in Tirana war zudem ein Kampfeinsatz, der außerhalb von UNO, SFOR und anderen Staatenverbünden und Regelwerken durchgeführt wurde. Mit SFOR und Tirana wurden somit Bundeswehreinsätze einer neuen Art geschaffen, die die Verwendung der Bundeswehr zu etwas so Neuem machen, daß diese Einsätze im Grunde einer zweiten Wiederbewaffnung gleichkommen. Dies verdient Beachtung.
Zweitens hat diese Entwicklung ihren Grund nicht nur in der vorwiegend militärischen Logik des bisherigen internationalen Krisenmanagements auf dem Balkan. Sie liegt auch in der von aktuellen Anlässen unabhängigen Logik der Militärpolitik der Bonner Koalition.
Nach ihr sind der SFOR- und der Tirana-Einsatz der Bundeswehr nützliche Etappen auf einem Weg, auf dem in schrittweisem Vorangehen von Einzelfall zur Einzelfall eine sogenannte militärische „Normalität“ für das geeinte und voll souveräne Deutschland erreicht werden soll. Auf dem Wege zu diesem, in seiner letzten Konsequenz etwas unübersichtlichen Ziel ist es für die Akteure hilfreich, daß sich solche Bundeswehreinsätze weniger als Ergebnisse Bonner Politik als vielmehr als Ergebnisse von unabweisbaren internationalen Zwängen bzw. einer (nicht bestehenden) „Bündnispflicht“ darstellen lassen. Auf solchem Wege können grundsätzliche Fragen der deutschen Militärpolitik ausgeklammert bleiben. Hier besteht Klärungsbedarf.
Drittens hat es aber auch, zumindest in der linken Hälfte des deutschen politischen Spektrums, einmal bedenkenswerte Denkansätze gegeben, die Bundesrepublik als den betonten Zivilstaat, der sie seit ihrer Gründung war, zu erhalten. Zu ihnen gehörte die Vorstellung, für die deutsche Beteiligung am internationalen Krisenmanagement eine Priorität für das Nichtmilitärische zu entwickeln. Doch scheinen solche Überlegungen spätestens seit dem Augenblick entschwunden zu sein, in dem eine in sich uneinige und rechtlich ungenügend unterrichtete SPD die Beantwortung der grundsätzlichen Frage nach Einsätzen der Bundeswehr außerhalb des Nato-Gebietes dem Bundesverfassungsgericht übertragen und damit auf eine (damals keineswegs aussichtslose) eigenständige Beteiligung an einer politischen Gestaltung der Antwort verzichtet hat. Hier besteht fortdauernder politischer Spielraum. Man denke beispielsweise nur an die groteske Situation, daß nach den derzeit geltenden rechtlichen Verfahren die Bundeswehr leichter für internationale Interventionen einzusetzen ist als für die Verteidigung Deutschlands.
So fehlt in Deutschland bis heute eine Antwort auf die Frage, was deutsche militärische Normalität ist: Welche künftige Bundeswehr soll welche künftigen Aufträge mit welchen Prioritäten haben? Hinsichtlich der Zukunft der Bundeswehr besteht in parteipolitisch ungebundenen Fachkreisen kein Zweifel, daß mit dem Verschwinden des Kalten Krieges und dem Entstehen neuer Formen internationaler Friedenssicherung an die Stelle der derzeitigen deutschen Wehrpflichtarmee ein sehr viel kleineres Berufsheer treten sollte. Zahlreiche gewichtige Argumente hierfür liegen auf der Hand, stichhaltige Gegenargumente sind nicht erkennbar.
Wichtiger als der Umbau der Bundeswehr bleibt freilich deren Funktion in der deutschen Außenpolitik, also die ganz konkrete Frage, wann und warum deutsche Soldaten, außer zum Zwecke der (im Rahmen der Nato kollektiven) Landesverteidigung, töten bzw. sich töten lassen sollen. Überblickt man die Entwicklung seit der Herstellung der deutschen Einheit über die in unterschiedlichen Richtungen aussagekräftigen „Verteidigungspolitischen Richtlinien“ der Bundesregierung von 1992 bis heute, dann findet sich mehr als ein Anzeichen für eine, zurückhaltend formuliert, Überbewertung der militärischen Komponente der deutschen Außenpolitik. Und es stellt sich die Frage, ob zu der angestrebten militärischen „Normalität“ Deutschlands nach Wunsch von deren Protagonisten nicht klammheimlich auch gehören soll, daß die Bundeswehr im Rahmen der deutschen Außenpolitik künftig der bekannten Clausewitzschen „Fortführung der Politik mit militärischen Mitteln“ dient. Bundeswehr als Bundesmacht in aller Welt?
Gegenwärtig scheinen allerdings die meisten Politiker angesichts der Bundestagswahlen im nächsten Jahr zu befürchten, daß durch eine öffentliche Diskussion der Doppelfrage nach Gestalt und Auftrag der Bundeswehr ein zu großes, durch die Bundeswehr und ihr Umfeld begründetes Wählerpotential verunsichert werden könnte. Die Regierungskoalition hofft auf Wähler aus diesem Potential, SPD und Grüne wollen ihm gegenüber zumindest nicht als „vaterlandslos“ erscheinen. Das Ergebnis ist eine große Koalition der Verschleierung der erwähnten Probleme. Sie ist unfair gegenüber den Berufs- und längerdienenden Soldaten der Bundeswehr. Sie schadet der deutschen Politik. Doch nach den Bundestagswahlen wird dann, allein schon aus finanziellen Zwängen, das Herumeiern ein Ende haben müssen. Und dann könnte vielleicht auch eine staatstragende deutsche Linke wieder einen Weg zu einer eigenständigen Teilnahme an der politischen Gestaltung der Antwort auf die besagte und für Deutschland nicht ganz unwichtige Doppelfrage finden. Hans Arnold
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