Asylpolitik Bei den „sicheren Herkunftsstaaten“ stellt Kretschmann mal wieder den Konsens mit der Bundesregierung über grüne Grundsätze: Der Kanzlerinnenversteher
Aus Stuttgart Benno Stieber
Selten wurde eine Bundesratssitzung mit solcher Spannung erwartet. Eigentlich sollten die Länder heute zustimmen, die Maghrebstaaten zu sicheren Herkunftsländern zu erklären. Doch das Thema ist vertagt – die grün mitregierten Länder haben größte Bedenken. Winfried Kretschmann aber sorgt für Aufregung. Er steht an diesem Morgen früh im ARD-Hauptstadt-Studio mit erhabenem Blick aufs Regierungsviertel und erklärt, warum er bereit wäre, entgegen der Parteilinie trotzdem zuzustimmen.
Die präsidiale Szenerie des Fernsehstudios passt gut. Denn Kretschmann gefällt sich auch nach der Landtagswahl gut in der Rolle des Kanzlerinnenverstehers, wenn es um die Flüchtlingspolitik geht. Er habe die Zusage der Bundesregierung, dass Schwule, Journalisten und religiöse Minderheiten aus diesen Ländern im Deutschen Asylverfahren auch weiterhin so gründlich behandelt würden wie bisher, sagt Kretschmann. Damit sei den Menschenrechten „ein Stück weit Genüge getan“. Im Übrigen sei es wichtig, dass sich Bund und Länder in der Flüchtlingsfrage nicht gegenseitig blockieren.
Ein typischer Kretschmann. In Wahrheit hält der baden-württembergische Ministerpräsident die Frage, ob die Maghrebstaaten zu sicheren Herkunftsländern erklärt werden, eher für vernachlässigbar. Im Mai kamen aus Tunesien gerade einmal 55 Flüchtende nach Deutschland. Er hat da einen Kompromiss verhandelt, der erst recht offenlegt, wie klapprig das Konzept der sicheren Herkunftsstaaten ist, nimmt man Menschenrechtsfragen wirklich ernst. Denn wozu braucht es eine Sonderbehandlung von Journalisten, Schwulen, Lesben und religiösen Minderheiten, wenn angeblich auch bei sicheren Herkunftsländern das individuelle Recht auf Asyl gewahrt bleibt?
Das wären alles Gründe, seine Zustimmung zu verweigern und auf eine grundsätzliche anderen Umgang mit Flüchtlingen zu dringen. Aber so tickt Kretschmann nicht. Für ihn ist der Konsens unter Demokraten ein eigener Wert, in diesen Zeiten, die nicht nur er für Krisenzeiten der Demokratie und Europas hält. Er hat die AfD als stärkste Oppositionsfraktion im eigenen Landtag. Er kennt die Stimmung in der Bevölkerung nach den Ereignissen von Silvester in Köln. Darauf, findet er, muss man als gewählter Politiker Rücksicht nehmen.
Und so bleibt er für die Kanzlerin der Anti-Seehofer: im Ton moderat, in der Sache stets berechenbar. Auch wenn ihn das in die moralische Zwickmühle und in einen Konflikt mit seiner Partei bringt.
Und dann ist da noch der Koalitionspartner daheim. Seit März ist das eine CDU, die sich erst daran gewöhnen muss, Juniorpartner zu sein. Bei der Präsentation des Koalitionsvertrags hatte man – Achtung: grün-schwarze Symbolik! – Kiwis und Trauben aufgefahren. Kretschmann und sein Juniorpartner Strobl hatten ein wenig darüber gescherzt, ob der Vertrag nun mit grüner oder schwarzer Tinte geschrieben sei und zur Freude der Konservativen in der Union kurz zuvor ziemlich eindeutig hineingeschrieben: „Die im Bundesrat anstehende Entscheidung über die Erweiterung des Kreises der sicheren Herkunftsstaaten um die Maghrebstaaten werden wir unterstützen, falls die entsprechenden hohen verfassungsrechtlichen Voraussetzungen vorliegen.“
Seitdem die Zustimmung im Koalitionsvertrag also festgeschrieben ist, war Kretschmann in der Zwickmühle. Und so bleibt es der Kretschmann sonst eher ergebenen Landespartei überlassen, den Deal zu kritisieren. Der Landesvorsitzende Oliver Hildenbrand sagt: „Das Eintreten für Menschenrechte erfordert eine klare Haltung.“ Dass er es selbst war, der das Thema Flüchtlinge in den Stuttgarter Koalitionsrunden mitverhandelt hat, sagt er allerdings nicht.
Die Reaktionen aus der Bundespartei sind derweil erstaunlich milde. Der Parteivorsitzende der Grünen, Cem Özdemir, sagt, der Ministerpräsident von Baden-Württemberg treffe seine eigenen Entscheidungen. Nordrhein-Westfalens Grünen-Chef Sven Lehmann erklärt: „Wir brauchen echte Problemlösungen, keine stimmungsgetriebene Symbolpolitik“.
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