Artrock-Legenden The Residents: Das letzte Rätsel der Popmusik
Die US-Artrock-Band The Residents waren mit ihren schrillen Kostümen und Pop-Parodien ihrer Zeit voraus. Und heute?
Was wäre die Popmusik ohne Legenden? Wohl nicht viel mehr als eine Ansammlung von Songs, von denen viele ihre Halbwertszeit nicht überstanden hätten. Doch Kontext ist im Pop (fast) alles. Mit dem kalifornischen Künstlerkollektiv The Residents spielt jetzt wieder eine Band auf, die die Mythenbildung – und ihrem Zwilling, die Dekonstruktion – auf mannigfaltige Art erfolgreich durchdekliniert hat.
Wo soll man anfangen, das eigenwillige Universum der Band zu beschreiben: beim Tragen von Masken? Legendär und oft kopiert sind die blutunterlaufenen Augapfel-Köpfe mit Zylinder, aktuell sind sie maskentechnisch bei Pestärzten aus dem 17. Jahrhundert angekommen. Bei den Residents treffen sich Avantgarde und Spektakel-Pop.
Einen großen Unterhaltungswert hatten auch ihre teils bitterbösen Kommentare zum Popbetrieb, oft in Gestalt von Coverversionen. Der US-Artrock, deren einzige Überlebende die Residents heute zu sein scheinen, war immer ein bisschen fieser und abgründiger als ihr dem Pomp zugeneigtes britisches Pendant. Das zweite Album „The Third Reich ’n Roll“ von 1976 war eine zynische Aufarbeitung der 1950er und 1960er Jahre.
Das Cover zeigte Fernsehmoderator Dick Clark, eine einflussreiche Figur in der Rock-’n’-Roll-Szene, in SS-Uniform. Auch Songs von Elvis, den Beatles und den Rolling Stones zerhackten sie, bis kaum mehr etwas vom Original übrig war. Das „Commercial Album“ (1980) enthielt lauter jingleartige Stücke von einer Minute Laufzeit, davon aber gleich 40. Das kann schon mal anstrengend werden.
Schon mit ihrem Debütalbum „Meet The Residents“ (1974) parodierten sie das Artwork von „Meet The Beatles“, dem zweiten US-Release der britischen Band. Wohl nicht nur deshalb gab es in den 1970er Jahren Spekulationen, denen zufolge sich hinter den Residents in Wirklichkeit die Beatles verbergen – ein Verschwörungstheorie, über die sie Mitte der Nullerjahre nochmal witzelten, als auf der Webseite der Band die Mitglieder als „John, Paul, George and Reingold“ gelistet wurde.
Eigenes Referenzsystem
The Residents waren eine Band, die seit den späten 60er Jahren so ziemlich alles aufsaugte und verarbeitete, was durch den gesellschaftlichen Äther schwirrte. Sie experimentierten viel mit neuen Technologien und drehten die Resultate mit ihrer speziellen Ästhetik durch die Mangel, was sie wiederum an die Popwelt zurückspiegelten. Damit schufen sie ihr ganz eigenes Referenzsystem, das sehr einflussreich war. Sogar der Simpsons-Erfinder Matt Groening ist ein großer Fan.
Vieles davon scheint aus heutiger Sicht redundant, im Kontext ihrer Zeit waren sie aber durchaus richtungsweisend – etwa, indem sie früh alternative Vertriebswege entwickelten. Etwas albern und schnell altbacken schienen dagegen die Multimediaexperimente, an denen sie sich in den 1990er Jahren versuchten. Überhaupt scheinen sie im Spätwerk Ideen, die einst für ein Album reichten, über ein ganzes Jahrzehnt verteilt zu recyclen.
Dennoch, die Residents haben die Popkultur reichlich beschenkt. Die 70er Jahre kann man als ihre klassische Periode bezeichnen, in den 80ern begannen sie mit neuen Technologien zu spielen, ihre experimentellen Trickfilme gehörten in der Frühphase von MTV zum Repertoire des Senders.
Ihr ausuferndes Referenzsystem schufen sie, ohne dass ihnen ihre Egos – die bekanntlich vieles zerstören können, erst recht wenn eine Rockstarpersona dranhängt – dazwischen funkten. Sie traten als Kollektiv auf, bis sie sich 2010 Aliase gaben, angeblich, um mit der Zeit zu gehen. Doch ihre Gesichter blieben der Öffentlichkeit weiter unbekannt.
Mit ihnen gesprochen hat offiziell nie jemand, Interviews ließen sie nur von ihren Management geben, der „Cryptic Cooperation“, wobei es wahrscheinlich ist, dass die angeblichen Sprecher deckungsgleich mit den Bandmitgliedern waren. Von der Originalbesetzung ist aktuell wohl nur der Sänger Randy Rose übrig. Sein sich Chuck Bobuck nennender Mitstreiter stieg 2016 aus, vergangenes Jahr starb er an Krebs.
Kein Zukunftsoptimismus mehr
Erste Homerecordings des Kunstkollektivs, dessen Mitglieder sich in den frühen 1960er Jahren an der Highschool in Louisiana kennengelernt hatten, entstanden bereits 1965. Ein Jahr später machten sie sich auf den Weg nach San Francisco, um an das Epizentrum der Hippiekultur anzudocken und ihrem Traum vom Filmemachen nachzugehen.
Als ihr Truck im kalifornischen San Mateo liegenblieb, verweilten sie erst mal dort. Das war vermutlich ein Glücksfall, bastelten sie dort doch mit einem kruden Gerätepark an ihrem künstlerischen Programm, fernab von dem Zirkus, zu dem San Francisco schnell wurde. Irgendwann schafften sie es aber doch in die Bay Area.
Ihren Namen fanden sie der Legende zufolge, als sie ein Tape an den Mann beim Label Warner Music schickten, der auch den von ihnen bewunderten Experimental Blues-Musiker Captain Beefheart unter Vertrag genommen hatte. Der war allerdings nicht angetan. Da die Band keinen Ansprechpartner genannt hatte, ging die Sendung zurück an die Absenderadresse: „The Residents“.
Den Zeitgeist inspirieren sie dieser Tage wohl nicht mehr, aber immerhin spiegeln sie ihn auch im sechsten Jahrzehnt ihrer Existenz noch. Womöglich ist ihnen ihr einstiger technologischer Zukunftsoptimismus abhanden gekommen.
Unter dem Titel „The Ghost of Hope“ hat die Band 2016 Songs über Eisenbahnen und Zugunglücke herausgebracht, mit der sie die Diskrepanz zwischen technologischer Entwicklung und der Entwicklung der Gesellschaft, die sich dieser Technologie bedient, thematisierten. Es ist naheliegend, dass das im Subtext ein kritischer Kommentar über unsere digitale Gegenwart ist.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
Streit um Russland in der AfD
Chrupalla hat Ärger wegen Anti-Nato-Aussagen
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“