Arte-Serie über Indigene in Kanada: Der Staat raubte ihnen die Kinder
In Kanada wurden während des „Sixties Scoop“ tausende indigene Kinder ihren Familien entrissen. Die Arte-Serie „Little Bird“ erzählt davon.
Fünf Minuten dauert die Sorgerechtsverhandlung, dann werden der indigenen Patti Little Bird (Ellyn Jade) im Jahr 1968 vor einem kanadischen Gericht ihre drei Kinder weggenommen. Sie selbst hat keine Gelegenheit sich zu äußern und bricht weinend im Gerichtssaal zusammen. Der Vater der Kinder liegt im Krankenhaus, nachdem er von der Polizei ins Koma geprügelt wurde.
Die Serie „Little Bird“ erzählt die tragische Geschichte einer Familie aus dem Little-Pine-Reservat, der wie tausenden anderen in Kanada während des sogenannten „Sixties Scoop“ von Sozialarbeitern ihre Kinder weggenommen und zur Adoption freigegeben wurden. Mehr als 20.000 indigene Kinder wurden von Ende der 50er bis in die 80er Jahre auf diese Weise ihren Familien entrissen, um sie angeblich besser in die kanadische Gesellschaft zu integrieren.
„Ich bewahre diese Kinder vor einem Leben in Armut“, kommentiert das eine staatliche Sozialarbeiterin in der Serie im Brustton der Überzeugung. Seit einigen Jahren beschäftigt sich in Kanada auch die historische Forschung mit dem Thema.
Akten unter Verschluss
„Little Bird“, 6 Episoden auf arte ab 23.5.
Erzählt wird die fiktionale Geschichte in der Serie „Little Bird“ aus der Perspektive der 23-jährigen Esther Rosenblum (Darla Contois), die Ende der 60er im Alter von fünf Jahren von einer jüdischen Familie in Montreal adoptiert wird und sich als junge Frau auf die Suche nach ihren indigenen Wurzeln begibt. Das ist nicht einfach, denn die Adoptionsakten sind in all diesen Fällen unter Verschluss, den Betroffenen darf von amtlicher Seite keine Auskunft über ihre wirkliche Familiengeschichte gegeben werden.
Das erlebt auch Esther. Nur durch die ausgeschnittene Zeitungsanzeige, die damals für ihre Adoption warb und die ihre Mutter Golda (Lisa Edelstein) aufgehoben hat, weiß Esther, dass sie eigentlich Behzig Little Bird heißt. Die angehende Juristin reist in die Provinz Saskatchewan, wo sie 18 Jahre zuvor zur Adoption freigegeben wurde. Mit Hartnäckigkeit findet sie ihre vier Geschwister, wobei die Familienzusammenführung keine rührselige Angelegenheit ist, sondern für alle Beteiligten kompliziert und verstörend.
Die jüngere Schwester Dora (Imajyn Cardinal) lebt bei einer Pflegefamilie, wo sie sexuell missbraucht und aus dem Haus gejagt wird. Sie landet als Sexarbeiterin auf der Straße. Esthers Zwillingsbruder Niizh (Joshua Odjick) wird von einer Farmerfamilie in North Dakota adoptiert, die ihn im Stall schlafen und wie einen Arbeitssklaven schuften lässt. Mit 16 Jahren haut er ab, wird Alkoholiker und tourt als Rockmusiker durchs Land.
Rücksichtslose Behörden
Bis sich die Geschwister finden, muss Esther Klinken putzen, alte Dokumente durchwühlen, mit Unbekannten reden und Druck auf eine Mitarbeiterin der Kinderschutzbehörde ausüben, die schließlich häppchenweise mit Informationen herausrückt. Ihre Familie in Montreal hat erst wenig Verständnis für diese fast schon obsessive Suche und Esther überwirft sich sogar mit ihrem Verlobten.
Die Serie springt geschickt zwischen den einzelnen Zeitebenen Ende der 60er und Anfang der 80er Jahre hin und her und baut ungemein viel Spannung auf. Dabei wird klar, wie rücksichtslos die Behörden bei ihrem Vorgehen waren und den Eltern ohne substanzielle Gründe eine Vernachlässigung ihrer Kinder unterstellten.
Wie präsent das Thema für indigene Menschen in Kanada nach wie vor ist, betont Serienmacherin Jennifer Podemski, die selbst einen jüdisch-indigenen Familienhintergrund hat. Für die mehrheitlich indigenen Schauspieler, von denen viele selbst in ihren Familiengeschichten Erfahrungen mit dem „Sixties Scoop“ gemacht haben, waren die Dreharbeiten mitunter traumatisierend, weshalb stets ein Therapeut mit am Set war, erklärte sie gegenüber der Presseagentur Canadian Press.
„Diese Geschichten sind extrem ergreifend – nicht nur für indigene Menschen und nicht nur für Menschen, die die gegenwärtige Realität kolonialer Gewalt in welcher Form auch immer erlebt haben (…), sondern auch für nichtindigene Menschen, die den Ernst der Lage erkannt haben und sich schuldig fühlen“, so die 41-jährige Jennifer Podemski. Mit „Little Bird“ erzählt sie eine ebenso bedrückende wie empowernde Geschichte. Absolut sehenswert!
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Stockender Absatz von E-Autos
Woran liegt es?
Kürzungen im Berliner Haushalt
Kultur vor dem Aus
Bundestag bewilligt Rüstungsprojekte
Fürs Militär ist Kohle da
Grüne über das Gezerre um Paragraf 218
„Absolut unüblich und respektlos“
BSW-Chefin im ZDF
Wagenknecht räumt Irrtum vor russischem Angriff ein
Erfolg gegen Eigenbedarfskündigungen
Gericht ebnet neue Wege für Mieter, sich zu wehren