Armut in Hongkong: Die Käfigmenschen von Kowloon
In Hongkong, einer der reichsten Städte der Welt, leben mehr als 10.000 Arme in Gitterkäfigen. Einige davon sind nur so groß, dass eine Person darin liegen und aufrecht sitzen kann.
Der neunjährige Simon spielt lustlos auf dem unteren Bett mit einem Flugzeug aus einer chinesischen Lego-Kopie. Gelegentlich schaut er dabei auf einen kleinen Fernseher, in dem ein Comicfilm läuft. Das fensterlose Zimmer ist 3,5 Quadratmeter klein. Es ist jedoch nicht nur Simons Kinderzimmer, sondern entspricht der gesamten Wohnung. Er lebt mit seiner Mutter in einem Bretterverschlag im achten Stock eines Hauses aus den 1960er-Jahren im Hongkonger Stadtteil Sham Shui Po auf der Halbinsel Kowloon.
Es ist schon nach acht Uhr abends, doch Simons Mutter ist noch nicht von der Arbeit als Altenpflegerin nach Hause gekommen. So hat Simon immerhin das untere Bett, das beiden auch als Schreibtisch, Wohn-, Ess- und Spielzimmer dient, für sich allein. Das obere Bett ist von Tüten und Taschen voller Kleidung belegt. Sie werden auf den Boden gestellt, wenn Simon zu Bett geht.
- Die Stadt mit 7 Millionen Einwohnern ist eine der modernsten und reichsten Metropolen der Welt. Nach Tokio und Osaka ist es die teuerste Stadt im Fernen Osten. Die frühere britische Kolonie und heutige südchinesische Sonderzone verdankt ihren Aufstieg dem stetigen Zustrom von Flüchtlingen aus China und der Nähe zur Volksrepublik, für die sie ein wichtiges Bindeglied zum Weltmarkt bildete. Die inzwischen deindustrialisierte Finanz- und Dienstleistungsmetropole hat außer für Hausmädchen keinen Mindestlohn.
- Hongkong hat prozentual die meisten Milliardäre der Welt. Der Steuersatz beträgt einheitliche 15 Prozent. In den letzten Jahren hat sich das Vermögen immer ungleicher verteilt. Der Gini-Koeffizient der Einkommensverteilung, bei dem 0 völlige Gleichheit und 100 völlige Ungleichheit bedeutet, zeigte 2007 mit 43,4 die ungerechteste Einkommensverteilung aller hochentwickelten Länder der Welt (USA: 40,8; Deutschland: 28,3). (han)
Das katholische Hilfswerk Misereor zeigt eine Ausstellung über Käfigmenschen: Wilhemshaven bis 7. März, Berlin 12. März bis 3. April, Infos: www.misereor.de/aktionen-kampagnen/ausstellung-cage-people
Die Tür zum Verschlag von Simon und seiner Mutter steht offen, damit Luft vom dunklen Gang hereinkommen kann. In einigen geöffneten Nachbarverschlägen liegen halbnackte ältere Männer auf ihren Pritschen. Sie lassen sich von ihren Fernsehern berieseln oder dösen vor sich hin. Andere Verschläge sind verschlossen. Am Ende des schmalen Ganges zwischen den Bretterbuden befindet sich die einzige Toilette.
Hier sind 20 Haushalte in jeweils zwei Verschlägen übereinander in einem etwa 30 Quadratmeter großen Raum untergebracht. Die Miete für die oberen Bretterkäfige, die nur über eine Leiter zu erreichen sind, ist etwas preiswerter. Da in Hongkong Fahrstühle früher erst für Häuser ab neun Stockwerken vorgeschrieben waren, wurden in den 1960er- und 1970er-Jahren viele Gebäude mit nur acht Stockwerken gebaut - ohne Aufzüge. Heute sind diese Altbauten unattraktiv und die Wohnungen in den oberen Stockwerken wegen der zahlreichen Treppen preiswerter. Skrupellose Vermieter unterteilen und vermieten sie an die Ärmsten der Armen: Arbeitslose, Tagelöhner, ungebildete Migranten und Neuankömmlinge aus China sowie Kranke und verarmte Rentner.
Auch Simons Mutter Loa Tak-sheung kommt aus der Volksrepublik China und war mit einem Mann aus der heutigen autonomen Sonderzone und früheren Kronkolonie Hongkong verheiratet. Vor einem Jahr entdeckte Loa, dass er noch eine andere Frau hat. Sie trennte sich von ihm. Seitdem wohnt sie mit Simon hier, wie sie wenig später erzählt, als sie von ihrem langen Arbeitstag nach Hause kommt. Simon begrüßt sie freudig, auch wenn dann in dem Verschlag überhaupt kein Platz mehr ist. Beide machen es sich in dem schmalen Bett vor dem Fernseher so gemütlich wie möglich. "Ich habe hier schon viele Flohstiche bekommen. Im Sommer ist es heiß und stickig hier," sagt die 40-jährige Loa. "Ich möchte hier nicht leben. Aber ich habe keine andere Wahl."
Da sie keine Berufsausbildung hat, sei das Überleben als Alleinerziehende in Hongkong sehr schwer, erzählt sie. "Ich stamme aus einer armen Bauernfamilie. Ich ging in die südchinesische Sonderzone Shenzhen, um in der Industrie zu arbeiten. Dort traf ich meinen Mann, der mich nach Hongkong mitnahm." Heute arbeitet sie täglich zwölf Stunden an sechs Tagen die Woche. Dafür bekommt sie 6.000 Hongkong-Dollar im Monat, umgerechnet 540 Euro. Sie ist in dem Raum mit den 20 Bretterverschlägen auch für die Müllentsorgung und die Reinigung zuständig. Das erspare ihr ein Viertel der Grundmiete von 1.000 Hongkong-Dollar oder etwas mehr als die zusätzlichen 200 für den elektrischen Strom. "Ich hoffe auf eine Sozialwohnung von der Stadt," sagt Loa. "Doch darauf müssen wir mindestens vier Jahre warten." Simon möchte so schnell wie möglich raus aus dem Verschlag. "Ich mag es hier nicht. Es ist dreckig, und ich habe keinen Platz zum Spielen," sagt der Junge. Er ist in den 20 Haushalten das einzige Kind. Doch gibt es in seiner Klasse noch einen Jungen, der so lebt.
Simon weiß es nicht, aber im reichen Hongkong gibt es "Wohnungen", die noch kleiner sind als der Verschlag, den er mit seiner Mutter teilt. Sie werden Käfige genannt und sehen auch so aus, stapelbare Gitterboxen mit 1,5 Quadratmetern und einer Höhe von einem Meter - genau der Platz, den eine Person zum Liegen und Aufrechtsitzen braucht.
Der 80-jährige Tai Lun Po lebt seit 30 Jahren in so einem Gitterkäfig ein paar Straßen von Simon und seiner Mutter entfernt. Tais Käfig steht in einem Raum mit elf anderen, meist zwei übereinander. Ab zwölf Käfigen müssen diese Käfigheime von den Behörden registriert werden und bestimmte Sicherheits- und Hygienevorschriften erfüllen. Tais Vermieter wollte das offenbar vermeiden. Auch weil die Käfige durchsichtig sind, wirkt der Raum luftiger als die dunklen Verschläge bei Simon und seiner Mutter. Der alte Tai muss auch nur in den dritten und nicht in den achten Stock des Hauses steigen. Doch beim Betreten des Raumes, in dem nur alte und sieche Männer dünn bekleidet in ihren Käfigen liegen und unter der Decke fast unbemerkt ein Fernseher flimmert, entsteht der Eindruck, sie würden nur noch auf den Tod warten. Bei einigen Käfige, deren Bewohner gerade nicht da sind, sind die Gittertore mit Vorhängeschlössern verschlossen. An anderen hängen Bügel mit Kleidung zum Trocknen.
Der alte Tai ist schwerhörig. Nur mit Mühe kann er mit der Sozialarbeiterin kommunizieren, die sein Kantonesisch übersetzt. Er ist während der Kulturrevolution vor vierzig Jahren aus China geflohen, erzählt er. Seine Angehörigen dort seien inzwischen alle gestorben. Bis vor zehn Jahren habe er in Hongkong als Kuli, also Tagelöhner und Lastenträger, gearbeitet. Inzwischen sei er jedoch zu alt. Mittlerweile lebt der mittellose Rentner von Sozialhilfe. Die Stadt zahlt ihm den Höchstsatz von 1.265 Hongkong-Dollar Wohngeld, was nicht ganz für seine 1.295 teure Miete reicht. Auch bekommt er noch eine Sozialhilfe von 2.400 Hongkong-Dollar, umgerechnet 215 Euro.
Die Sozialarbeiterin Lai Shan Sze, die für die Nichtregierungsorganisation Society for Community Organizing (Soco) arbeitet und Tai im Umgang mit den Behörden hilft, sagt, sie möchte ihn gern in einer städtischen Gemeinschaftswohnung unterbringen. Doch die Wartezeit betrage mehr als ein Jahr. "Die globale Finanz- und Wirtschaftskrise hat den Bedarf an preiswertem Wohnraum in Hongkong verstärkt", sagt sie. "Der Druck auf die Ärmsten der Armen ist gestiegen. Die Mieten für die Käfige sind heute um 5 bis 10 Prozent höher als vor einem Jahr". Die Preise auf dem normalen Wohnungsmarkt sind in der Krise hingegen gefallen. Heute entspricht die Miete in den Wohnkäfigen pro Quadratmeter denen von Appartements in guten Wohnlagen.
Die Organisation Soco schätzt die Zahl der Käfigmenschen in Hongkong auf mehr als 10.000. Da Soco diesen Menschen nicht nur hilft, sondern sie auch zu politischen Protesten animiert und für sie Lobbying macht, begegnen die Hongkong dominierenden konservativen Kreise der Organisation mit starken Vorbehalten. Von den großen Wohltätigkeitsorganisationen, deren Galas Hongkongs Reiche gern besuchen und die sie mit Blick auf das eigene Image unterstützen, bekommt Soco nur geringe Mittel.
Schimpfender Vermieter
Beim Besuch einer dritten Unterkunft für "Käfigmenschen" in Sham Shui Po kommt es zum Eklat. Kurz nach Betreten des Raums, in dem 32 Verschläge untergebracht sind, taucht der Vermieter auf und stürmt schimpfend auf die Sozialarbeiterin Lai los. "Verschwinden Sie hier! Sie verderben mein Geschäft", brüllt er und wirft sie hinaus. Lai ist irritiert. "Ich wusste nicht, dass er so spät abends noch hier ist," sagt sie. "Aber ich komme wieder, wenn er nicht da ist."
Beim Abschied von Simon sagt seine Mutter, sie möchte keine staatliche Hilfe in Anspruch nehmen, die in Hongkong stigmatisiert ist, damit sich der Junge nicht daran gewöhne. Der hingegen meint kämpferisch: "Ich will Käfigwohnungen abschaffen und in einem Monat woanders wohnen." Seine Mutter blickte traurig zu Boden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos
Streit um Russland in der AfD
Chrupalla hat Ärger wegen Anti-Nato-Aussagen