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Argentinien-Fans in IndienKampf der Pappkameraden

In Indien ist das eigene Nationalteam hoffnungslos schlecht. Also unterstützen lokale Fans leidenschaftlich Brasilien und Argentinien.

WM-Begeisterung in Kerala: Neymar, Messi und Ronaldo machen einander als Pappkameraden Konkurrenz Foto: Fans von Pullavoor

Als am 20. November die WM in Katar begann, prallte eine Gruppe begeisterter Argentinien-Fans in blau-weißen Nationaltrikots und mit Landesflaggen auf Brasilien-Fans, die ähnlich gut ausgestattet waren. Der Auslöser ist nicht ganz klar, aber bald brach eine Schlägerei zwischen den beiden Gruppen junger Männer aus, und die umgedrehten Fahnenstangen wurden zu Stöcken umfunktioniert. Der Vorfall trug sich am Rand eines Friedhofs zu und bei Twitter gingen Handyvideos viral, die Grabsteine mit R.I.P. im Vordergrund und Kämpfe im Hintergrund zeigten, all das zum größten allgemeinen Erstaunen … denn die ganze Angelegenheit geschah im indischen Kerala, und die raufenden Argentinien- und Brasilien-Anhänger waren Ortsansässige.

„Hier kämpfen während der WM Brasilien- und Argentinien-Fans“, sagt Nausher Nellikode, Präsident eines Argentinien-Fanklubs in einem Dorf namens Pullavoor in Kerala. „Wir sind Freunde, sogar Brüder, aber das kommt vor.“ Sein Dorf war an dem Kampf mit dem vielgeteilten Video nicht beteiligt, schaffte es aber wegen einer anderen Ausein­andersetzung in die Nachrichten. Drei Wochen vor Beginn der WM haben Nellikode und seine Argentinien-Mitstreiter beschlossen, einen 30 Fuß hohen Messi-Aufsteller auf einem kleinen Erdklumpen in der Mitte eines Flusses zu platzieren.

Viele Menschen aus Kerala arbeiten in den Golfstaaten, einschließlich einiger Männer aus dem Argentinien-Fanklub, die mit ihren Freunden in der Heimat über Whatsapp-Gruppen in Verbindung stehen. „Unsere Freunde, vor allem die im Nahen Osten, haben kleine Summen beigesteuert“, sagt Nellikode. Dank dieses Geldes konnten die Argentinien-Fans heimlich den Pappkameraden bauen, trugen die Figur auf ihren Schultern in den Fluss und stellten sie auf.

Ihre Freude war allerdings eher kurzlebig. Innerhalb von drei Tagen hatten die Brasilien-Fans des Dorfes geantwortet und eine 40 Fuß hohe Neymar-Figur vor Messi errichtet, demonstrativ ergänzt durch fünf Aufsteller von WM-Pokalen. Das wiederum provozierte Nellikode, dessen jüngerer Bruder Cristiano-Ronaldo-Fan ist, derart, dass er ihm und den paar verstreuten Portugal-Fans der Gegend half, einen 50 Fuß hohen Aufsteller des portugiesischen Stürmers hinter Messi zu platzieren.

Saudischer Pappkamerad

Das Foto von den drei Pappkameradn im Fluss wurde auf dem offiziellen Fifa-Kanal getweetet, aber die Geschichte ist damit noch nicht am Ende. Zu Nellikodes Unglück verlor Argentinien sein erstes Spiel gegen Saudi-Arabien, woraufhin sich die Brasilien-Fans mit ein paar Ortsansässigen verbündeten, die in Saudi-Arabien arbeiten, und eine Pappfigur des saudischen Flügelspielers und Siegtorschützen Salem Aldawasari aufstellten.

Über 3.000 Kilometer nördlich von jenem tropischen Kerala, wo sich die Rauferei auf dem Friedhof zutrug, erlebte die nahe der Himalaja-Grenze zu China gelegene Bergstadt Darjeeling – ansonsten für ihren Tee berühmt – am Eröffnungstag des Turniers einen Fanmarsch lokaler Anhänger. Zum Glück für Darjeeling führte wie schon 2018 der lokale Polizeikorps in voller Montur samt Dudelsäcken und Trommeln den Marsch an; die Fans folgten somit friedlich und schwenkten ihre Argentinien- und Brasilienflaggen sowie eine beachtliche Anzahl Deutschlandfahnen.

Regionen abseits des Mainstream

So viel Fußballverrücktheit mag in Indien seltsam wirken, immerhin steht das Land mit seinen 1,3 Milliarden Einwohnern in der Fifa-Rangliste auf Platz 106 und hat es nie auch nur in die Nähe einer Teilnahme an dieser WM gebracht. Es gibt allerdings vier indische Gebiete, die kulturell und politisch allesamt ein wenig vom sogenannten nationalen Mainstream abweichen, und hier ist Fußball seit Langem die beliebteste Sportart. Das betrifft die historisch von den Kommunisten dominierten Staaten Kerala und Westbengalen, die ehemalige portugiesische Kolonie Goa und die bergigen Bundesstaaten im Nordosten an den Grenzen zu China, Myanmar und Bangladesch, in denen mehrheitlich indigene Völker leben.

An diesen Orten ist es der Fußball, der die hingebungsvollsten Fans anzieht, weit vor Cricket. Die spezifische Faszination für Brasilien und Argentinien führt der Geschichtsprofessor Kausik Bandyopadhyay, Autor mehrerer Bücher zum indischen Fußball, auf Solidarität unter Entwicklungsländern zurück. „Als Dritte-Welt-Land war Indien ab den späten Fünfzigerjahren beeindruckt von Brasiliens Erfolg in der Fußballwelt“, sagt Bandyopadhyay. „Pelé und sein Brasilien haben dafür gesorgt, dass ganze Generationen von Indern zu Brasilien-Anhängern wurden. Aber es waren Diego Maradona und seine Argentinier, die diese Brasilien-Dominanz in Bedrängnis gebracht haben. Indien war fortan bei Weltmeisterschaften oder der Copa America in argentinische und brasilianische Fußballkolonien geteilt.“

Krankenhausreif in Bangladesch

Bandyopadhyay, der selbst aus Westbengalen stammt, sagt, dass Fans im benachbarten Bangladesch ihre Unterstützung für Brasilien oder Argentinien wesentlich aggressiver auslebten. Letztes Jahr während der Copa America mussten fünf Menschen im Krankenhaus behandelt werden, nachdem örtliche Brasilien- und Argentinien-Fans einander in Brahmanbaria bekämpft hatten, was die in Dhaka ansässige Zeitung Daily Star zu dem satirischen Kommentar hinriss, dass Argentinien und Brasilien beschlossen hätten, den Copa-America-Pokal nach dem Finale nach Brahmanbaria zu geben.

Bangladesch hat auf der Fifa-Weltrangliste Platz 192 inne. Es gibt überhaupt nur 193 Länder in den Vereinten Nationen, wenngleich die Fifa – wo etwa England, Wales und Schottland mit eigenen Teams antreten – 211 Mitglieder hat. Die Begeisterung für Argentinien und Brasilien, zwei Länder, die von Südasien aus gesehen wortwörtlich am anderen Ende der Welt liegen, färbt jedoch nicht auf das Image der eigenen Nationalteams ab und verleitet auch niemanden dazu, den Sport ernsthaft selbst zu betreiben.

„Es gibt definitiv keine vergleichbare Begeisterung für das indische Nationalteam“, sagt Bandyopadhyay. Die Unterstützung sei durchaus in letzter Zeit gewachsen, aber solange Indien international schwach abschneide, ständen die Chancen auf ähnlichen Enthusiasmus schlecht. Wahrscheinlich werden Fans in Indien und Bangladesch deshalb auch in Zukunft zumindest für ein paar Wochen alle vier Jahre kurzzeitig Argentinier, Brasilianer oder auch Deutsche, um die emotionale Achterbahn des Fußballfantums zu erleben.

Übersetzung: Alina Schwermer

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