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Der Freund der Daddelkinder

Eigentlich soll John Heese am Kaufhof am Alexanderplatz Computerspiele verkaufen. Doch die Jungen, die hier täglich zum Spielen kommen, haben ihn zu ihrem Ersatzvater gemacht. „Manchmal denk ich, ich krieg ’ne Macke“, meint der Verkäufer

„Die meisten Kinder haben einen Rechner, dürfen aber keine Freunde mitbringen“Vater zum Sohn: „Je eher de begreifst, wie hart det Leben is, desto besser“

von PLUTONIA PLARRE

Die Stimmung in der Spielwarenabteilung im Kaufhof am Alexanderplatz ist kurz vor dem Siedepunkt. Mit bunt gemalten Wunschzetteln bewaffnete Mütter und Väter schieben sich durch das Gewühl. Kinder schreien, die Klimaanlage rauscht, im Hintergrund dudelt „Oh Tannenbaum“. Die Nerven der Verkäufer liegen blank.

In dem mit Glasscheiben abgeteilten Bereich des japanischen Computerspiele-Herstellers Nintendo hat John Heese* sein Reich. Den 30-jährigen sportlichen Mann mit gegeltem schwarzem Haar und gebräuntem Teint Verkäufer zu nennen, wäre profan. Promoter für Nintendo-Artikel klingt besser. Aber auch das ist nur die halbe Berufsbezeichnung für das, was Heese im Kaufhof macht. Denn er ist auch Kindergärtner und Ersatzpapi für zahllose Kids, die von den Monitoren magisch zum so genannten Daddeln angezogen werden. Die Mehrzahl ist zwischen acht und zehn Jahre alt. Viele kommen jeden Tag nicht selten direkt von der Schule hierher. Manch einer geht erst abends um acht nach Hause, wenn der Kaufhof zumacht. Daddel-Kids sind in jedem größeren Laden mit Spielkonsolen zu finden. Nicht aber ein Promoter wie John Heese. Ohne ihn wäre der Nintendo-Store am Alexanderplatz für die Kids längst nicht so attraktiv.

Auch der siebenjährige Norbert F., der Ende November spurlos verschwand, ist in dem Nintendo-Laden im dritten Stock des Kaufhofs ein und aus gegangen. An dem besagten Tag, es war ein Montag, hatte sich das Kind wie häufig zuvor gegen 18 Uhr von seiner Mutter verabschiedet und war allein mit der S-Bahn von Moabit zum Computerspielen zum Alexanderplatz gefahren. Bereits im Oktober hatte die Mutter bei Heese ein Schreiben mit einer Erlaubnis hinterlegt: „Mein Sohn Norbert darf zwei Stunden am Tag spielen.“

An jenem Montag hatte Norbert wie üblich um 20.30 Uhr wieder zu Hause sein sollen. Aber er kam nicht. Die Mordkommission suchte zwei Tage nach dem pausbäckigen, blond gelockten Kind. Dann stellte sich heraus, dass er bei einem Jugendlichen übernachtet hatte, den er im Kaufhof getroffen hatte. Dass die Mutter den Siebenjährigen nach Einbruch der Dunkelheit allein durch die Stadt hatte fahren lassen, hat nicht nur viele Eltern und Pädagogen auf die Palme gebracht. Gegen die Frau wurde ein Ermittlungsverfahren wegen Verletzung der Fürsorgepflicht eingeleitet. Norbert ist seither nicht mehr zum Computerspielen im Kaufhof aufgetaucht.

Es gibt Zeiten, da hängen an den fünf Playstations in dem winzigen Nintendo-Store bis zu 35 Kids herum. Norbert F. gehörte zum harten Kern von rund 15 Jungen, die jeden Tag da sind. Promotor Heese, der neben seinem Halbtagsjob im Kaufhof im achten Semester Betriebswirtschafslehre studiert, kennt die meisten mit Namen. Er weiß, dass der Laden für viele Jungs eine Art Ersatzfamilie ist. „Die meisten haben einen Computer, dürfen aber keine Freunde nach Hause mitbringen.“ 70 Prozent der Mütter seien allein erziehend und zum Teil schlichtweg überfordert, meint Heese. „Die Jungs wollen auch mal eine Männerstimme hören.“ Aber auch über die Väter hört Heese schlimme Geschichten, nicht selten sind Arbeitslosigkeit und Alkohol im Spiel. „Manche Kinder sind richtig verwahrlost.“ Haut und Haare hätten tagelang kein Wasser gesehen, hat Heese beobachtet. Die Sachen seien dreckig, die Reißverschlüsse kaputt. Auf einem Kopf habe er sogar schon mal Läuse entdeckt, erzählt der Mann mit dem gepflegten Äußeren.

Es ist früher Nachmittag. Im Nintendo-Store scharren vier Jungen im Alter von acht bis zehn Jahren unruhig mit den Füßen. Um 14 Uhr ist es endlich so weit: Heese schaltet die Spielkonsolen an. Die Kids reißen sich ihre Schulmappen und Winterjacken vom Leib, stopfen die Sachen unter ein Regal und stürzen sich vor die Monitore. Kaum dass sie „Super Mario“, „Starfox“ und „Pokémon“ ins virtuelle Kampfgetümmel geschickt haben, stehen schon die nächsten drei Jungen im Laden. „Hi, John“, begrüßen sie den Verkäufer mit einem klatschenden Give-me-five, bevor sie zu den anderen an die Bildschirme eilen. „He, Junge, was hab ich gesagt? Alles ausziehen“, ermahnt Heese den Kleinsten und zieht ihm die Mütze vom Kopf. „Sonst frierst du, wenn du nachher in die Kälte kommst.“

Jacken ausziehen und Mappen abnehmen gehört zu Heeses festen Regeln. An den Schultaschen käme kein Kunde mehr vorbei. Und die Lichtspots an der Decke würden den Laden so aufwärmen, dass im Sommer schon mal ein Kind umgefallen sei. Weil viele Kinder direkt von der Schule kommen, lege er Wert darauf, dass sie Essen und Trinken dabei haben. „Das lass ich mir auch zeigen.“ Wenn Zeit sei, würde er auch bei Schularbeiten und Bewerbungsschreiben helfen. „Den Kindern nützt es und mir vertreibt es die Zeit.“ Denn wenn nicht gerade Weihnachten oder Ostern sei, sei im Laden oft „Totentanz“. „Man kann nicht nur ständig Regale aufräumen und putzen“, sagt Heese.

In der Zeit vor Weihnachten ist der Spagat allerdings kaum auszuhalten, Verkäufer und Papi in einem zu sein. In dem Store steppt der Bär. Dass er den Erwachsenen hundertmal am Tag die Frage nach dem Unterschied der Gameboy-Arten beantworten muss, störe ihn nicht, sagt Heese. Aber die aggressive Stimmung vieler Kunden schlage ihm aufs Gemüt. „Es gibt Leute, die behandeln einen wie einen Leibeigenen.“ Sein Fazit: „Weihnachten altert ein Verkäufer zwei Jahre.“ Bei dem Gedränge an den langen Adventssamstagen macht Heese die Playstations deshalb grundsätzlich nicht mehr an. „Wir leben schließlich vom Verkauf“, erklärt er den Jungen dann. Der dunkle Bildschirm zeigt Wirkung. „Los, wir gehen rüber zu Saturn“, knufft einer den anderen in die Seite. Im Nu sind die Kids verschwunden. An der Sympathie für Heese ändert dies nichts.

„John ist voll in Ordnung“, findet der 13-jährige Kevin*, einziger Gymnasiast unter den Stammspielern. Durch John habe er seine beiden besten Kumpel kennen gelernt. „Er hat uns im Laden miteinander bekannt gemacht.“ So was wie John, verrät Kevin, möchte er später auch mal machen: „Marketing und solche Sachen.“ Auch für den 15-jährigen Mike* steht fest: John ist cool. „Wenn er Zeit hat, unterhält er sich mit uns. Aber es gibt auch klare Regeln. Wer den Controller runterkrachen lässt, sich beim Spielen auf den Boden setzt oder rumnervt, fliegt raus.“

Heese nickt. „Wenn ich das nicht durchziehe, tanzen sie mir auf der Nase rum.“ Überhaupt ist er der Meinung, dass die Kinder viel zu wenig erzogen würden. „In dem Punkt, aber auch sonst, bin ich stramm konservativ“, outet sich der Mann als in Steglitz geborener, in Steglitz aufgewachsener und immer noch in Steglitz wohnender CDU-Wähler. Auch bei der Bundeswehr ist er zwei Jahre lang gewesen. Seit er während des Wehrdienstes in Deutschland rumgekommen ist, ist ihm klar: „Ich liebe Berlin. Da kann man im Anzug rumlaufen oder als Punk, und keiner ist geschockt.“ Über sich selbst erzählt Heese, dass er für 13,78 Mark die Stunde Autos gewaschen habe, als er von zu Hause ausgezogen ist. Später habe er als Promoter für Camel und die Love Parade gearbeitet, um sein Studium zu finanzieren. Vor zwei Jahren bekam er den gut bezahlten Job beim Kaufhof.

„Ich habe eine Super-Kindheit gehabt“, erzählt Heese. Das sei vermutlich auch die Triebfeder für sein Engagement, glaubt er. „Die Kinder tun mir zum Teil echt Leid.“ Sein Vater, ein Fabrikarbeiter, habe sich für ihn und seine Geschwister immer viel Zeit genommen. „Mutter hat darauf geachtet, dass wir mit gewaschenem Kopf und geschnittenen Fingernägeln knitterfrei aus dem Haus gehen.“ Und Freude habe er auch immer mitbringen können. „Ich möchte auf jeden Fall auch mal selbst Kinder haben“, sagt Heese. „Aber dazu muss ich noch die passende Frau finden.“

Auch wenn es wie ein Widerspruch erscheint: Dass sich Heese während seiner Arbeitszeit mit den Daddlern beschäftigt, deckt sich voll und ganz mit der Verkaufsstrategie von Nintendo. „Meine Firma verfolgt die Devise: Die Kinder sind die Kunden der Zukunft. Sie müssen die Möglichkeit haben, die Spiele auszutesten“, sagt Heese. Im Nintendo-Store in München geht die Fürsorge so weit, dass ein Sozialarbeiter und ein Kripobeamter regelmäßig als Ansprechpartner für die Kinder zur Verfügung stehen.

Dass die Kripo ein Augenmerk auf die Daddel-Kids hat, kommt nicht von ungefähr. Die Computerecken in den Kaufhäusern sind beliebte Anlaufstellen für Pädophile. „Eigentlich habe ich mich gewundert, dass nicht schon viel früher was passiert ist“, spielt Heese auf den Fall von Norbert F. an. „Ich wundere mich, wie blauäugig manche Eltern sind.“ Seine hätten ihn im Alter von sieben Jahren niemals allein aus Steglitz rausgelassen. „Manchmal denke ich, ich krieg ’ne Macke, wenn ich Sechs- und Achtjährige völlig unbeaufsichtigt im Laden rumstehen sehe. Die fahren auch alleine U-Bahn und steigen sogar um.“ Unter den Eltern von Heeses Daddel-Kids gibt es aber auch positive Ausnahmen. Eine davon ist die Mutter des 13-jährigen Lars*, die mit Heese längst per du ist. Auch an diesem Nachmittag kommt die junge Frau in den Store geschlendert, um sich zu erkundigen, wann ihr Ältester in letzter Zeit so zum Spielen gekommen sei. „Nur freitags vor dem Gitarrenunterricht“ antwortet Heese wie aus der Pistole geschossen. Die Frau nickt zufrieden. „Das ist schön. Dann sagt mir Lars die Wahrheit.“ Als ihr Junge zum ersten Mal von dem Verkäufer in der Computerabteilung geschwärmt habe, sei es für sie klar gewesen: „Den Mann muss ich sehen. Nette, ältere Freunde muss man sich als Mutter besonders gut angucken.“ Die Art, wie Lars’ Mutter mit Heese umgeht, lässt keinen Zweifel daran, dass der die Prüfung zur vollsten Zufriedenheit bestanden hat.

Auch andere Eltern kämen gelegentlich vorbei, erzählt der Promoter. Einige hätten ihre Visitenkarte hinterlassen, für den Fall, dass ihr Sohn vormittags kommt statt zur Schule zu gehen. Seit die Geschäftsführung des Kaufhofs angeordnet hat, dass die Geräte erst um 14 Uhr angeschaltet werden dürfen, sei der Anreiz zum Schuleschwänzen allerdings nicht mehr so groß wie früher.

Wenn er Geschichten von der anderen Sorte Eltern erzählt, wird Heeses Stimme ganz hart. Gerade unlängst hat er wieder erlebt, dass ein Siebenjähriger mit seinem fünfjährigen Bruder stundenlang an den Geräten stand. Schließlich forderte er den Älteren auf, ihm die Telefonummer der Mutter zu geben. Die Frau am anderen Ende der Leitung habe gar nicht verstanden, was er von ihr wollte, sagt Heese. „Erst, als ich gedroht habe: Entweder Sie kümmern sich um Ihre Kinder, oder ich rufe die Polizei, war sie bereit zu kommen.“

Und dann gebe es noch eine dritte Sorte: „die Eltern, die ihre Kinder im Nintendo-Store abstellen, um ungestört einkaufen zu gehen, möglichst ganze Nachmittage lang.“ Dementsprechend lang seien die erwachsenen Gesichter, wenn am Samstag die Computer abgestellt sind. Auch dass die Kinder in dem Store schlichtweg vergessen werden, kommt laut Heese immer wieder vor. Als besonders krass ist ihm der Fall eines Fünfjährigen in Erinnerung, der stundenlang auf seine Eltern wartete. Als das Kind um 19.55 Uhr – fünf Minuten vor Ladenschluss – immer noch nicht abgeholt war, ließ Heese die Eltern ausrufen. Die Wiedersehensszene hat ihn tief berührt. „Was heulst’n so rum“, habe der tütenbepackte Vater das weinende Kind angebrüllt. „Je eher de begreifst, wie hart det Leben is, desto besser“.

*Namen geändert

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