: Mehr oder weniger Demokratie
PARADOX Thomas vom Bruchs persönliche WählerInnen haben ihn aus dem Parlament gevotet: Wahlrechtsforscher halten das für einen verfassungswidrigen Systemfehler
■ 118.389 Listen- und 105.407 Personenstimmen der CDU ergeben 16 Mandate, umzulegen auf rechnerisch 8,464 Listen- und 7,536 Personenmandate, gerundet 8 Listen- und 8 Personenmandate: keins für vom Bruch.
■ Schlüge man seine 1.460 Personenstimmen der CDU zu, verschöbe sich die Quote auf 8,568 Listen- zu 7,431 Personenmandate, also 9 zu 7: vom Bruch hat eins.
■ Auf 8,52 Listen- zu 7,48 Personenmandate, gerundet 9 zu 7, verschöbe sich die Quote, wenn vom Bruchs Personenstimmen gar nicht oder für andere Parteien abgegeben worden wären – auch dann wäre er drinnen. BES
VON BENNO SCHIRRMEISTER
Vier Tage nach Feststellung des amtlichen Endergebnisses steht nun auch der Verlierer der Bürgerschaftswahl fest. Es ist: Dr. Thomas vom Bruch. Im Herbst noch als Spitzenkandidat der CDU gehandelt zieht der, trotz guten Listenplatzes neun, nicht wieder ins Parlament ein, außer wenn Elisabeth Motschmann ihr Mandat nicht annimmt. Und zwar hat das drei Gründe: erstens das schlechte Abschneiden der CDU insgesamt, zweitens, dass vom Bruch nur so wenige Personenstimmen erhielt. Und drittens: dass ihn überhaupt Leute gewählt haben.
Vom Bruch wusste davon nach CDU-Angaben nichts, bis ihn die taz die Diagnose auf den Anrufbeantworter sprach. Reagieren könne man darauf aber erst, wenn man die zugrunde liegenden Berechnungen kenne, hieß es aus dem Haus am Wall. Die aber hatte, in Abwesenheit von CDU-VertreterInnen, am Freitagmittag in der Bürgerschaft Valentin Schröder vorgestellt: „Vom Bruch hat nicht nur zu wenig, sondern gleichzeitig zu viel Stimmen bekommen“, erklärte der Wirtschaftswissenschaftler, der an der Uni zu Parteienproporz forscht. Egal ob die Personen, die für ihn stimmten, stattdessen die CDU, eine andere Partei oder gar nicht gewählt hätten – „er hätte ein Mandat erhalten“. Sprich: Die rund 300 Leute, die Dr. Thomas vom Bruch angekreuzt haben, haben ihn aus der Bürgerschaft gevotet. Derartiges bringe „die Demokratie ins Trudeln“, so Schröder. Poltikwissenschaftler Lothar Probst, mit dem er die Wahl untersucht hat, resümierte: „Wir halten das Wahlsystem in seiner jetzigen Form deshalb für verfassungswidrig.“ Entscheiden könne das aber nur der Staatsgerichtshof.
Das habe der doch, wandte Grünen-Nestor Hermann Kuhn ein. Schon 2010 habe Bremens höchstes Gericht die Verfassungsmäßigkeit des komplexeren Wahlrechts bestätigt, und dabei genau auch diese Fragen erörtert: „Das ist keine neue Debatte“, so Kuhn. Allerdings hält das damalige Urteil zwar fest, dass auch in einem Wahlsystem, das Personen- und Listenstimmrecht kombiniert, die Wählenden keinen Anspruch darauf haben, dass sich exakt die von ihnen beabsichtigte Wirkung entfalte – „einen willkürlichen oder nicht erkennbaren Effekt darf die Stimmabgabe aber nicht haben“ schränkt das Urteil jedoch ein. Und der, den Probst und Schröder nachweisen, dürfte das Kriterium erfüllen. Er tritt zudem fast zwangsläufig ein: Auch bei den Beiratswahlen 2011 hat es laut Probst drei oder vier einschlägige Fälle gegeben.
„Das ist ein Mangel“, räumte denn auch Tim Weber, Landesgeschäftsführer des Vereins Mehr Demokratie, ein, der die Wahlrechtsreform seinerzeit angestoßen hatte. „Er wäre allerdings ausgeschlossen, wenn man, wie wir zunächst vorgeschlagen hatten, ganz auf Listen verzichten würde – zugunsten eines reinen Personenwahlrechts.“ Eine Idee, vor der den Parteien schon damals gruselte.
Auch aktuell klagen sie darüber, dass ihre Wahlvorschläge durcheinandergebracht werden, chaotisiert oder „zerschossen“, wie sich Probst durchaus mitfühlend ausdrückt: „Wir haben nun mal eine Parteiendemokratie“, gibt er zu bedenken. „In der sind Parteien das zentrale Element politischer Willensbildung.“
Folgerichtig beinhalten seine und Schröders Heilungsvorschläge eine neuerliche Stärkung der Parteien. Neben einer Rückkehr zum reinen Listenwahlrecht halten sie für denkbar, das aktuelle Wahlrecht mit einer „iterativen Mandatszuteilung“ zu versehen – also zu prüfen, ob beim ersten erfolglosen Listenkandidaten das Vom-Bruch-Phänomen auftritt – und gegebenenfalls die persönlichen zu Parteivoten umzudeuten. Auch denkbar sei es, die Personen- vor den Listenmandaten zu vergeben – und nur an BewerberInnen, die die „natürliche Mandatshürde“ gemeistert haben. Am 10. Mai gelang das Jens Böhrnsen, Karoline Linnert, Elisabeth Motschmann, Lencke Steiner und sonst niemand. Dieser Vergabemodus würde nur den Listenwahlvorschlag stärken, hatte auch seinerzeit der Staatsgerichtshof geurteilt, während doch die Gesetzesinitiative von Mehr Demokratie das Gegenteil wollte. „Über Reformvorschläge reden wir gerne“, so Weber daher auf Nachfrage, „aber wenn’s zurück zur reinen Parteienherrschaft geht, werden wir uns wehren.“
taz Salon am 9. 6.: „Viele Kreuze – wenig Wähler. Die Bremer Bürgerschaftswahl und die Zukunft der Demokratie“, Lagerhaus, 19 Uhr
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