piwik no script img

Wie weit gehen Sie für Ihre Gesundheit?

ANSTUPSEN Ein Schweizer Unternehmer will mit einer einzigen Zahl das Wohlbefinden jedes Menschen messen. Und so die maroden Krankenkassen sanieren. Seine App soll Versicherte belohnen, die sich mehr bewegen

Was Kassen anbieten

■ Gesetzliche: Alle Kassen führen Bonusprogramme, oft verbunden mit Online-Coachings, aber nur wenige bieten bisher Fitness-Apps. Das ergibt eine Umfrage der taz.am wochenende unter den neun größten Krankenkassen. Die Barmer GEK etwa stellt die App Fit2Go zur Verfügung: Wer sich an 20 Tagen 30 Minuten bewegt hat, bekommt dafür Bonuspunkte. Das Programm AOK mobil vital mit der dacadoo-App bietet nur die AOK Nordost. Eine Belohnung nach Gesundheitszustand lehnen alle ab. Das widerspreche dem solidarischen Prinzip.

■ Private: Die Generali-Versicherungen planen für 2016 ein Vitality-Programm. Je nach persönlicher Fitness werden dem Kunden Ziele gesetzt, für deren Erreichen er Prämien erhält. Die Allianz belohnt ihre Kunden, wenn sie mindestens ein Jahr keine Leistungen in Anspruch nehmen. So können Vollversicherte bis zu 30 Prozent ihrer Jahresbeiträge zurückerstattet bekommen. Axa führt lediglich ein Bonusprogramm.

■ Mehr auf: taz.de/fitnesskassen

AUS BERLIN UND ZÜRICH JOHANNES GERNERT (TEXT) UND CHRISTIAN BARTHOLD (ILLUSTRATION)

Bevor Peter Ohnemus wieder bereit zur Weltrettung war, quälte er sich mit Fellen unter den Skiern die Walliser Berge hoch. Sein letztes Start-up hatte er gerade verkauft, und wie immer an diesem Punkt brauchte er eine Denkpause. Anfangs fühlte er sich in diesem Januar vor fünf Jahren müde, kaputt und übergewichtig, aber je länger er nach oben stapfte und durch den Tiefschnee hinunterschwang, je mehr er schwitzte, mit sich rang, desto mehr spürte er, wie er fitter wurde. Ohnemus, der seinen ersten Burn-out schon hinter sich hatte, begann, sich ein Maß zu wünschen für seinen Gesundheitszustand.

„Wenn ich die Gesundheit der Menschen benchmarken könnte, das wäre eine Riesensache“, habe er beim Skiwandern gedacht, erzählt er. Oben auf der Hütte habe er seine Frau angerufen. Die sei auch Unternehmerin und gleich begeistert gewesen.

Fünf Jahre später ist Peter Ohnemus dabei, den Krankenkassen dieser Welt seinen Index zu verkaufen. Eine Zahl, die den Gesundheitszustand eines Menschen exakt bemisst. Jedes Menschen, jederzeit.

Peter Ohnemus, offener Hemdkragen, große Uhr, fünf Kinder, ist ein kräftiger Mann, dessen runder Kopf ohne Haare glänzt. Einer, der gewohnt ist, dass man ihm zuhört. Er kam in Dänemark zur Welt und lebt seit Jahren in der Schweiz. Seine Sätze haben etwas Sanftes, eine beschwingte Melodie. Er sitzt in seinem Büro in Zürich in einem Sessel aus weichem Leder und zieht immer neue Belege aus dem Papierstapel, in dem sich Balkendiagramme, Studien von Unternehmensberatungen und Zeitungsartikel mischen.

Ohnemus will der Menschheit etwas schenken: seine Benchmark. Normalerweise hilft eine Benchmark einem Unternehmen, seine Leistung mit der der stärksten Wettbewerber zu vergleichen. Ein Mensch ist wie ein Unternehmen und ein Unternehmen wie ein Mensch, glaubt er. „Beides Lebewesen.“

„Was die ganze westliche Welt zum Zusammenbrechen bringen kann, ist nach wie vor der Gesundheitssektor“, sagt Ohnemus. Das ist die Katastrophe, die er mit seiner Zahl abwenden will. Eine Uhr von Apple, die in dieser Woche auf den Markt kommt, soll ihm dabei helfen. Wenn die Menschen solche Geräte am Körper tragen, werden sie sich hoffentlich so verhalten, dass sie weniger oft, weniger schnell oder weniger schwer krank werden.

Und weil der Mensch Peter Ohnemus, 50 Jahre alt, Unternehmer ist, gibt es sein Geschenk nicht gratis. Es kostet 4,99 Euro im Monat. Im Internet-Kalifornien würde man Ohnemus einen „Serial Entrepreneur“ nennen. Er hat einige Start-ups gegründet. Zuletzt eines, das Asset4 hieß und börsennotierte Unternehmen auf Nachhaltigkeit prüft. Jetzt also Gesundheit.

„Die meisten Krankenkassen sind pleite. Das können Sie drehen und wenden, wie Sie wollen“, sagt er. Er hat es so gedreht, dass eine Geschäftsidee daraus wurde. Die Gesundheitsindustrie sei die größte Industrie der Welt. Trilliarden US-Dollar. Hinzu komme: „Übergewicht kostet heute mehr als der weltweite Krieg. Das sind McKinsey-Daten.“ Er sagt die Quellen immer gleich dazu, weil er den Eindruck hat, dass die Leute ihm nicht glauben wollen.

Sein neuestes Start-up nennt sich dacadoo. Ohnemus bezeichnet die App als „Lebensnavigationssystem“. Man kann mitstoppen, wenn man Sport macht, oder eingeben, wie gestresst man sich fühlt. Man bekommt Essenstipps. Die Einheiten dieses digitalen Gesundheitssystems sind: Energie und Bewegung. Kalorien und Schritte. dacadoo soll ein bisschen klingen wie Musik. Eine Idee mit Rhythmus da-ca-da-ca-da-ca-doo. Ohnemus trommelt mit den Fingern auf den Tisch.

Es gibt Menschen, die sind der Ansicht, dass Weltrettungsvorschläge wie die von Peter Ohnemus geradewegs in eine gesellschaftliche Katastrophe führen, noch viel größer als die, die er abwenden will.

Die Schriftstellerin Juli Zeh nennt diese Katastrophe Gesundheitsdiktatur. In ihrem Roman „Corpus Delicti“ hat sie eine Welt beschrieben, in der Menschen vor Gericht landen, wenn sie in „Sportrückstand“ geraten. Sport ist darin eine Bürgerpflicht, die digital überprüft wird. „Ein Mensch, der nicht nach Gesundheit strebt, wird nicht krank, sondern ist es schon“, lässt Zeh einen Vordenker dieser Gesellschaft schreiben.

Als der Roman 2009 erschien, war er ein Zukunftsszenario. Peter Ohnemus schafft jetzt die technischen Voraussetzungen. Dafür hat er sich unter anderem die Allgemeine Ortskrankenkasse Nordost ausgesucht.

Obwohl Sebastian Morzinek den Sonntag auf der Couch herumgelümmelt hat, sind alle Parameter seines Lebens im grünen Bereich. Körper, Befinden, Lebensstil. Die Uhr an seinem Handgelenk misst einen Ruhepuls von 59 und zeigt ein grünes Herz. Sein Gesundheitsindex schwankt leicht zwischen 762 und 765. Heißt: Es geht ihm gut.

Sebastian Morzinek, 29 Jahre alt, trägt einen dunklen Anzug und eine schmale Krawatte, die eine Idee zu elegant ist für das Namensschild der AOK, das er ans Revers geheftet hat. Auf der Kreuzung vor seinem Büro rumpeln Straßenbahnen durch den Berliner Autolärm. Kaum einer seiner Kunden hat einen Gesundheitsindex, und wenn sie einen hätten, läge er bei den meisten deutlich unter dem des Sozialversicherungsfachangestellten Morzinek, der diese AOK-Filiale leitet.

Jeden Tag ein paar Stupser. Kein Moralvortrag

Es ist bald zwei Jahre her, dass er sich über das Programm AOK mobil vital bei dacadoo registriert hat, um seine Schritte zu zählen, seine Blutwerte in die Formulare der App zu tippen, sein Stresslevel abends um acht mit einem Schieberegler einzuschätzen oder die Ernährungstipps zu lesen. Andere Kollegen haben das Interesse wieder verloren. „Mich hat es nicht mehr losgelassen“, sagt Morzinek. „Man wird ja auch täglich daran erinnert.“ Er geht heute regelmäßiger ins Fitnessstudio und tippt die Zeiten auf dem Fahrradergometer und beim Bauchmuskeltraining ein. Er hat gelernt, weniger Cola light zu trinken und mehr Hülsenfrüchte zu essen. Sein Ziel: ein Gesundheitsindex über 750. 750 von 1.000. Der Durchschnitt liegt um die 600.

Der psychologische Trick, der bei Sebastian Morzinek perfekt zu funktionieren scheint, nennt sich Nudging. To nudge heißt anstupsen. Man verpasst jemandem täglich ein paar Stupser, damit er mehr von dem tut, was ein anderer als wünschenswert definiert hat, und weniger von dem, was als weniger wünschenswert gilt. Im Kanzleramt sitzen mittlerweile Experten fürs Nudging, der Internetintellektuelle Evgeny Morozov sieht ein Nudging-Imperium heraufziehen.

Ich halt dir keinen Moralvortrag, ich geb dir einen Knuff.

Nudging soll helfen, dass Leute das Licht ausmachen, wenn sie es nicht brauchen, dass sie mehr Organe spenden oder dass der Sprühverlust beim Pinkeln durch höhere Zielgenauigkeit sinkt. Dafür werden etwa Mini-Fußballtore in öffentlichen Pissoirs installiert. Es ist ein Beispiel für eine Untermethode des Nudging, die Gamification genannt wird, also Spielifizierung.

Die Spielifizierung soll nun also nicht nur Toilettenfliesen sauber halten, sondern auch die Gesundheitssysteme dieser Welt retten.

Wenn die Perspektive hier zunächst etwas männlich wirkt, könnte das daran liegen, dass sie es ist. Bei der Rettung der Gesundheitssysteme soll schließlich ein Gerät helfen, das entfernt an die wasserdichten Herrenplastikuhren der 90er Jahre erinnert, mit denen man selbst auf dem Mond bis zu 40 Meter tief hätte tauchen können. Die Apple Watch kommt am Freitag in die Läden, seit Monaten wird sie vom Hersteller und von Journalisten gepriesen. Sie stupst wirklich an, indem sie auf der Haut vibriert, wenn zum Beispiel eine Nachricht kommt. Sie kommuniziert so mit dem Nutzer.

Die AOK ist die Kasse, deren Mitglieder wohl am ältesten und kränksten sind. Vielleicht ist sie deshalb eine der Ersten, die mit allen Mitteln versucht, finanziell zu retten, was noch zu retten ist. Sie hat es mit Autosuggestion probiert. Schon länger nennt sie sich nicht mehr Krankenkasse, sondern Gesundheitskasse.

Es gibt die üblichen Präventionskurse, Kochkurse, Rückenschulen, Zuschüsse fürs Fitnessstudio. Das Prämienprogramm belohnt Ausdauer mit einem Haartrockner, einem Bauch-Rücken-Heizkissen, einem Dampfbügeleisen. Und neuerdings gibt es die Plattform AOK mobil vital, die im Grunde von Peter Ohnemus betrieben wird. Wer sich bei dessen Start-up dacadoo registriert, erhält von der AOK Nordost einen Jahresbeitrag von 60 Euro erstattet. Da-ca-da-ca-da-ca-doo.

Wissenschaftler warnen vor der Sitzkrankheit

„Wenn wir therapieren, laufen wir nur hinterher“, sagt Werner Mall, der Psychologe, der die Präventionsabteilung der AOK Nordost leitet. „Mit richtig großem Einsatz, mit richtig viel Geld.“ Es gehe darum, die Menschen für einen gesünderen Lebensstil zu motivieren. Die Bundesregierung hat deshalb gerade ein Präventionsgesetz auf den Weg gebracht. Die Kassen sollen künftig 490 Millionen Euro jährlich für Vorsorge ausgeben.

Es scheint eine gute Zeit für Peter Ohnemus’ Idee. Wissenschaftler warnen vor der „sitting disease“, der Sitzkrankheit. Davor, dass das viele Sitzen das Risiko für Diabetes, Krebs und Herzkrankheiten erhöhe. Die private Versicherung Generali fiel kürzlich damit auf, dass sie als erste Rabatte für gesundheitsbewusstes Verhalten verspricht. Auch andere Kassen betreiben mobile Programme, in den App-Läden stehen Tausende. Fitnesscoaches, ein netter Freizeitspaß. Nur entwickelt sich dieser Freizeitspaß gerade zum Kontrollinstrument von Institutionen, die darüber entscheiden, ob die Behandlung von Krankheiten gezahlt wird – oder eben nicht. Aus den kleinen Stupsern, die man sich heute noch freiwillig bestellt, könnte morgen ein kräftiger Schubser werden. Und übermorgen ein Arschtritt?

Oh, Sie sind in den vergangenen zehn Jahren weniger als 30 Millionen Schritte gegangen? Da müssen Sie Ihr Insulin leider selber zahlen. Eine Chemo? Das sieht mit der Zuzahlung schlecht aus. Ich merke gerade, Sie hatten ja gar keine DNA hinterlegt.

Muss Sebastian Morzinek in seinem hellen Büro in zehn Jahren solche Gespräche führen?

Peter Ohnemus, dessen Gesundheitsfirma mehr als 20 Mitarbeiter in Zürich, Kiew und Menlo Park, Kalifornien, hat, spricht bei Versicherern, Medizinerverbänden und Politikern vor, um seinen Gesundheitsindex zu verbreiten. Er hätte gern, dass der Index irgendwann so akzeptiert ist wie die Maße der drei großen Kreditratingagenturen, sagt er. Ohnemus fliegt oft nach Brüssel, wo die Kommission derzeit überlegt, welche Regeln es für all die Gesundheitsapps braucht. Gerade erst hat er den Gesundheitsdienstleister Stamina überzeugt, in den kommenden Jahren die Gesundheit von 600.000 Mitarbeitern in 15.000 Firmen in Norwegen und Schweden mit seinem Index zu prüfen. Die EU-Kommission hat dacadoo unter die sechs besten „e-Health-Solutions“ 2015 gewählt. Im Mai wird im littauischen Riga ein Gewinner gekürt.

Bei Mediamarkt gibt es schon ein ganzes Regal für „Fitnessbänder“. Die Smartwatch von Apple wird dafür sorgen, dass künftig noch deutlich mehr Menschen sich etwaiger Sportrückstände bewusst sind. Fast eine Million Vorbestellungen hat Apple allein am vergangenen Wochenende verzeichnet, schätzen Analysten. Die Entwickler bei dacadoo arbeiten längst daran, dass ihre App auf der Uhr laufen kann.

Apple hat in sein neuestes iPhone-Betriebssystem ein „Health Kit“ eingebaut, das sich mit Waagen, Fitness-Armbändern oder Uhren verbinden lässt und automatisch die Schritte seiner Besitzer zählt. Das Health Kit des Konkurrenten Google heißt Google fit.

Uhren wie die von Apple helfen beim Anstupsen. Die Sorge ist auch klar: Werden die Stupser ruppiger, je mehr das Nudging Empire wächst?

Nachdem ihm beim Skiwandern im Januar 2010 seine Idee gekommen ist, liest Ohnemus sich durch Universitätsdatenbanken, besucht Gesundheitskonferenzen und spricht mit Ärzten, mit Wissenschaftlern. Er will diese eine Zahl, die alles auf den Punkt bringt.

Die meisten sagen, dass das Quatsch ist, seriös nicht zu machen. Wie genau solle man bitte die Gesamtgesundheit eines Menschen messen?

Peter Ohnemus erinnert sich an einen Physiker, den er von früher kennt. Im Grunde, denkt Ohnemus, ist das ja ein Risikomodell. Wie gefährdet ist einer gerade? Der Physiker hat solche Modelle für Versicherungen berechnet. Er steigt bei Ohnemus ein. Sie beginnen, Daten aus den größten Gesundheitsstudien zu sammeln und lassen sie durch ihre Rechner laufen. Eine britische Krankenversicherung gewinnen sie als ersten Partner.

„Wenn Sie Ihr Auto viermal gegen die Wand fahren“, sagt er, „steigt Ihre Prämie. Wenn Sie aber zehn Jahre lang jeden Tag fünf Kilo zu viel essen, ich übertreibe bewusst, dann hat das keine Konsequenzen. Für Ihre Mitmenschen, aber nicht für Sie.“

Das finde er gesellschaftlich nicht korrekt. „Für mich geht es darum, dass Leute weniger Krankenkassenbeiträge zahlen, wenn sie sich gut benehmen“, sagt er.

Im Grunde heißt das auch: Die Gesundheitskasse soll die Kranken bestrafen. Schuldige Kranke.

Klar: Jeder, der behindert geboren werde oder Krebs bekomme, der sei da für ihn ausgenommen, sagt Ohnemus. Unschuldige Kranke.

Radikale Lösungen

■ Digital: Die New Yorker Firma Oscar ist ein Start-up – und eine Krankenkasse. 2013 gegründet, verbindet Oscar konsequent das Sammeln von Daten und die Belohnung für gesundes Verhalten. Kunden erhalten ein Fitnessarmband. Wer das tägliche Schrittziel erreicht, bekommt einen Dollar. Ab 20 Dollar gibt es einen Amazon-Gutschein. Bis zu 240 Dollar pro Jahr werden so vergeben.

■ Analog: Wie zwei ZDF-Journalisten herausfanden, werben einige deutsche Krankenkassen wie KKH und HEK nicht nur um möglichst gesunde Kunden, sondern versuchen gezielt, Alte und chronisch Kranke loszuwerden. Indem sie etwa einer Multiple-Sklerose-Kranken Leistungen verweigern, die ihr zustehen – oder einem HIV-Infizierten nahelegen, die Kasse zu verlassen.

Bloß: Wo genau verläuft die Grenze? Und heißt das nicht auch, dass der Kranke künftig seine Unschuld beweisen muss?

Tut mir leid, 10.000 Schritte laufen geht so schlecht, ohne die künstliche Hüfte. Nein, ich habe nicht geraucht, die Nikotinspuren stammen aus einer Kneipe. Und der Nachtisch war doch nur wegen des Geburtstags.

Ein Diabetes-II-Patient, rechnet Ohnemus vor, verursache 3.500 bis 4.500 Euro Extrakosten im Jahr, „wenn Sie die OECD-Zahlen anschauen.“ Gehe man von Gesundheitskosten von 3.000 bis 4.000 Euro im Jahr aus, entstehe für so einen Patienten der doppelte Kostenfaktor. Geschätzte 75 Prozent würden im Gesundheitssystem für die Wartung Kranker ausgegeben.

Eine Kasse, wie er sie sich vorstellt, darf vier Mal im Jahr den Gesundheitsindex sehen, dafür gebe es dann 20 oder 25 Prozent Rabatt. Im Englischen nenne man das eine „Something for Something Economy“.

Wer keine Daten hergibt, würde mehr bezahlen. Bestimmt diese Logik bald unser Gesundheitssystem, hat die Linkspartei die Bundesregierung neulich gefragt. Eine Weigerung an „erweiterten Datensammlungen bezüglich seiner Gesundheit und seines Lebenswandels teilzunehmen“, erfülle die Voraussetzungen des Versicherungsvertragsgesetzes zur Beitragserhöhung nicht, antwortete die Regierung.

Noch nicht?

Die Unternehmensberatung Pricewaterhouse Coopers hat in einer Studie in den USA gerade festgestellt, dass Konsumenten sich solcher Technik zögerlich nähern, dass die Mehrheit aber bereit wäre, Daten herzugeben – gegen Versicherungsrabatte. Es werde eine große gesellschaftliche Herausforderung, die Balance zu finden zwischen dem Versicherungsschutz für unvermeidliche Krankheiten und denen, die Menschen mit ihrem Verhalten selbst verursachten, sagt die Leiterin des dortigen Health Research Institutes.

Die freiwillige Teilnahme an AOK mobil vital werde keine Auswirkungen auf die Höhe des Beitragssatzes haben, sagt die AOK Nordost. Das widerspreche schließlich dem solidarischen Grundsatz der gesetzlichen Krankenversicherung.

„Jeder sagt immer, das sei nicht solidarisch“, sagt Ohnemus. „Es ist auch nicht solidarisch, wenn Sie jeden Abend zwölf Kilo Fritten essen.“ Er übertreibt jetzt noch ein bisschen mehr. Es regt ihn auf.

Peter Ohnemus hat selbst einen ganz ordentlichen Bauch. Aber er könnte für die Folgen zahlen. Er hat mittags einen Salat gegessen und für die Schrittbilanz ist er um den Block gegangen. Er sagt, er kämpfe mit seinem Gewicht, und je länger er erzählt, desto stärker gewinnt man den Eindruck: Er mag auch einfach keine Dicken.

Ohnemus’ älteste Tochter hat neulich ein Auto gekauft, der Versicherungsbeitrag kam ihm zunächst horrend vor. Ohnemus hat das geärgert. Da haben sie ihr eine kleine Box eingebaut, mit der sie ihre Geschwindigkeit kontrollieren. Jetzt ist es billiger. Ein guter Deal, findet er.

Sebastian Morzinek war im Sommer 2013 noch Außendienstmitarbeiter der AOK, als er von seiner Chefin die App gezeigt bekam. Neben dem üblichen Programm mit den Rückenkursen, Entspannungskursen oder Antistresstrainings erschien ihm das „wie so ein Gimmick obendrauf“. Er bekam eine Schulung. Aktivitäten eintragen, Erfolge erringen, Wettbewerbe anlegen und an Ligen teilnehmen. Von da an erwähnte er AOK mobil vital meist am Ende seiner Workshops bei den Kunden.

Er bot die App in einem Krankenhaus an. Die Sache schien ihm reizvoll. Wer läuft mehr: der Oberarzt oder die Schwester? Aber die Mitarbeiter waren skeptisch. Da wisse der Chef ja genau, wann man Feierabend mache, wenn jeder die Laufwege oder die Bauchmuskelübungen minutengenau verfolgen könne.

Die Sorgen schienen Morzinek ein wenig übertrieben. „Ich denke mal, so viel Vertrauen sollte da sein“, sagt er, „dass der weiß, dass ich Feierabend mache.“ Sein eigener Chef sitzt in Schwerin und nutzt die App gar nicht. Man könne außerdem ziemlich gut einstellen, was andere sehen dürfen und was nicht.

Nette Spielerei, mehr nicht, sagt die Medizinerin

Der Datenschutzbeauftragte von Brandenburg, zuständig für die AOK Nordost, hält die Standardeinstellungen der App dagegen für „wenig datenschutzgerecht“ und sieht die Option kritisch, solche „sensitiven Gesundheitsdaten“ in sozialen Netzwerken mit „sogenannten Freunden“ zu teilen. Einzelheiten prüfe man nach der Anfrage der taz.am wochenende nun.

800 Mitglieder der AOK Nordost haben bisher Teilnahmeerklärungen unterzeichnet. 70 Prozent sind zwischen 20 und 39 Jahren alt, wobei das Durchschnittsalter der AOK Nordost bei 48 liegt. Überraschenderweise sind 60 Prozent Frauen.

Denn in der gesamten dacadoo-Community sind Männer klar in der Mehrheit, 67 Prozent. Durchschnittsalter: 35. Die meisten machen zwei oder drei Aktivitäten in der Woche und verbrennen dabei 504 Kalorien. 110.000 Nutzer sind verzeichnet, um die 40 Länder. „Was Sie hoffentlich freuen wird: 22 Prozent haben Gewicht verloren, 10 Prozent haben ihren Körperumfang verringert, 11 Prozent haben niedrigeren Blutdruck. Und das Diabetesrisiko sinkt“, bilanziert Ohnemus.

Peter Ohnemus kippt aus einem Mäppchen einen kleinen Haufen Geräte auf den Tisch. Eine winzige Pille, die als Kamera den Darm fotografieren kann. Cholesterintest übers Smartphone. Oder hier: Damit kann man rote und weiße Blutkörper testen, mit einem einfachen Pikser in den Finger. Längst messen Sensoren den Blutzuckerspiegel, ganz ohne Blut. Es wird immer einfacher, immer mehr über den eigenen Körper zu wissen. Das Programm, in dem diese Informationen zusammenlaufen sollen, muss dacadoo sein, findet Peter Ohnemus.

Apple wiederum ist der Meinung, es sollte Apple Health Kit heißen. Apple hat einen etwas größeren Marketing-Etat, aber weniger gute Beziehungen zur AOK Nordost.

An dieser Stelle wäre vielleicht ein guter Moment für einen weiblichen Blick auf die Weltrettungspläne des Peter Ohnemus. Ingrid Mühlhauser stammt aus Wien, ist Professorin in Hamburg, hat jahrelang zu Diabetes geforscht, der Krankheit also, die Gesundheitsökonomen mit am meisten umtreibt, und sie gehört dem Netzwerk für evidenzbasierte Medizin an. Die Wienerin braucht keine Viertelstunde, um Ohnemus’ Arbeit der vergangenen fünf Jahre am Telefon wegzuschmähen. Für sie zählt nur, was mit wirklich fundierten Studien belegt ist.

Programme wie dacadoo richteten sich sowieso vor allem an mittlere und höhere soziale Schichten, also nicht an die wahrscheinlich wichtigste Zielgruppe: Übergewichtige aus einem sozial schwächeren Umfeld. Mühlhauser hat ein paar Studien gefunden: „Die Ergebnisse sind enttäuschend. Es gibt keinen signifikanten Einfluss auf das Körpergewicht, auch nicht auf die längerfristige Aktivierung körperlicher Aktivität.“ Die Abbruchquoten seien enorm. Es sei wie bei den Bonusprogrammen. Sie würden vor allem von Leuten wahrgenommen, die ohnehin schon im Sportverein seien.

Die Berechnungen hält sie für eine „nette Spielerei für Menschen, denen es sehr gut geht“. Für Jungs wie Peter Ohnemus oder Sebastian Morzinek.

Warum, fragt Mühlhauser, ist neben Kitesurfen oder Klettern nicht auch Kinderbetreuung eine Aktivität in der dacadoo-App? Wieso kommt schwere körperliche Arbeit gar nicht vor?

Mühlhausers Netzwerk beschäftigt sich damit, wie mit der Festlegung von Gesundheitskennziffern Politik gemacht wird – und Geld. Das Gewicht etwa, sagt sie, werde völlig überbewertet bei Erwachsenen. Wer einen Body-Mass-Index von 27 habe, weise die höchste Lebenserwartung auf. Dazu gebe es tatsächlich riesige Studien. Nur ist es so, dass ein Wert von 27 als Übergewicht gilt.

Die Fitnessprogramme hält sie für eine Modeerscheinung. „Ich sehe das mit Beunruhigung, dass die Kassen das so fördern.“ Sie habe aber ohnehin ihre Zweifel, wie hoch die wissenschaftliche Kompetenz bei denen sei.

Kann es sein, dass es unschuldige Dicke gibt?

354.493

Todesfälle gab es 2013 aufgrund von Herz-Kreislauf-Erkrankungen

Quelle: Statistisches Bundesamt

9

Millionen Deutsche nutzen bereits Fitness-Tracker. Beliebteste Funktionen: Schrittzähler und Bewegungserinnerungen

Quelle: Bitkom-Studie

32

Prozent der Deutschen wären bereit, für finanzielle Anreize die Daten ihrer tragbaren Geräte weiterzugeben

Quelle: Pricewaterhouse Coopers

35

Prozent der Deutschen hätten die neue Uhr von Apple gern zu Ostern geschenkt bekommen

Quelle: Goldmedia

464

Minuten pro Tag sitzen Deutsche zwischen 46 und 65 Jahren im Durchschnitt

Quelle: Studie der DKV und der Sporthochschule Köln

10

Kilometer legen Deutsche im Schnitt pro Wanderung zurück. Die alten Römer sollen täglich 30 Kilometer gelaufen sein

Quelle: Deutscher Wanderverband

Bei der AOK Nordost behauptet niemand, man könne genau nachvollziehen, wie der Gesundheitsindex von dacadoo berechnet wird. Als nächster Schritt soll AOK mobil vital ins Bonusprogramm aufgenommen werden. Die AOK Nordost wird Mitglieder dann dafür belohnen, dass eine Zahl steigt, die sie selbst nicht versteht.

Er sehe das ganz entspannt, sagt der Leiter der Präventionsabteilung. Der Index diene vor allem der Visualisierung: „Dacadoo misst nicht Gesundheit, sondern gesundes Verhalten.“

Das alles wäre weniger bedeutsam, wenn dacadoo bloß die Spielerei von ein paar Technikjungs mit einer Vorliebe für Sportuhren wäre. Nur krempeln diese Technikjungs gerade die Gesundheitssysteme um. Es ist sehr wahrscheinlich, dass dacadoo bald neue Kooperationen verkündet.

Was, wenn im Apple Health Kit und bei dacadoo irgendwann die Gene dazukämen? Auch die lassen sich längst einfach testen. Juli Zehs Gesundheitsapokalypse wäre perfekt.

Es gibt den begründeten Verdacht, dass es bei dem neuen Fitnessregime, das viele Schritte für weniger Kalorien verlangt und die 10.000-Schritt-pro-Tag-Regel etabliert hat, nicht so sehr um ein medizinisches, sondern eher um ein ästhetisches Ideal geht, das sich mit einem pseudomoralischen Anspruch verbindet: Wer fett ist, ist ein asozialer Gesundheitsschlamper.

In den USA berichten Kunden von Fitbit, einem der größten Schrittzählungsunternehmen der Welt, dass sie trotz der App zunehmen. Es sind schlichte persönliche Erfahrungen, die Peter Ohnemus’ komplette Idee von Gerechtigkeit zerschießen.

Kann es sein, dass es unschuldige Dicke gibt?

Algorithmen sind nie böse, sie können nur manchmal ziemlich dumm sein. Sollen sie darüber entscheiden dürfen, wer als krank und wer als gesund gilt?

Im Sommer 2013 bekommt Sebastian Morzinek eine Mail übers firmeninterne Intranet. Es finde ein Wettbewerb statt, wer die meiste Energie verbrauche. Die Mitarbeiter könnten sich in die Gruppen mit den Buchstaben A, O und K aufteilen. Gewinn: ein Wellnesswochenende. Mal den Chef schlagen zu können, sei doch ein netter Ansporn, sagt Morzinek. Anschließend hat er allerdings beobachtet, wie bei vielen das Interesse nachließ.

Die Motivationsschwierigkeiten seiner Kunden sind dem Unternehmer Peter Ohnemus bewusst. „Sie müssen immer wieder mit Karotten kommen“, sagt er, mit Anreizen.

Nur, wer zahlt die Karotten, wenn alle pleite sind?

Da lacht Peter Ohnemus sehr laut. Gute Frage.

Sebastian Morzinek hat gerade erst eine Urkunde und eine Medaille geschickt bekommen. Dritter Platz bei einem Wettbewerb unter dacadoo-Mitgliedern mit einem Gesundheitsindex von mehr als 700. Ein bisschen ulkig findet er das schon. Aber er freut sich auch.

Die Versicherten, die an diesem Morgen die Filiale betreten und an Morzineks verglaster Bürotür vorbeilaufen, wirken nicht, als könnte sie das interessieren. 10.000 Schritte täglich? An Krücken?

Johannes Gernert, 34, ist Redakteur der taz.am wochenende. Für diesen Text hat er einen Selbstversuch unternommen: taz.de/schrittzähler

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen