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Heile Welt

SOWAS WIE LIEBE Nach dem Ende der vergangenen Saison entschieden sich die Ultras Hannover, den Spielen der Profi-Mannschaft fernzubleiben und stattdessen die Amateure zu unterstützen. Dort haben sie billiges Bier und die Wertschätzung der Spieler wiederentdeckt. Ein Besuch im Stadion

„Die Wurst kommt vom Holz-Kohle-Grill, das Bier kostet 2,50“

HANS, ULTRA-SPRECHER

AUS RICKLINGEN RALF LORENZEN

“Zum Stadion, Alter? Gleiche Richtung zurück.“ Die Punks an der Haltestelle Wallensteinstraße denken beim Wort „Stadion“ nur an die AWD-Arena, in der die Bundesliga-Mannschaft von Hannover 96 am Abend zuvor nicht über ein dürftiges 1:1 gegen Hertha BSC hinausgekommen ist. Glücklicherweise ist ein Pulk von Jugendlichen mit schwarzen Sweatshirts unschwer als Fußballfans zu erkennen. Die weisen die Richtung, in die der Bus zu dem Stadion fährt, das für viele Fans von Hannover 96 in dieser Saison der Ort ist, an dem sie ihre Vereinsliebe ausleben: das Beeke-Stadion in Ricklingen.

Wer sich mit der Lektüre der Lokalpresse auf den Besuch des Stadions vorbereitet, muss auf das Schlimmste gefasst sein. „Seit die 96-Ultra-Fanszene mit hunderten Anhängern zu den Amateurspielen geht, fürchten sich die Anwohner rund um das kleine Fußballstadion“, schrieb im November die Neue Presse. „Viele Anwohner parken ihre Autos woanders und lassen ihre Kinder nicht raus, wenn da gespielt wird“, kam da ein besorgter Ricklinger zu Wort. „Ganz Ricklingen hat Angst vor denen.“

Keiner zittert vor Angst

Heute zeigt der Second-Hand-Shop Chicchic seine Auslage unverbarrikadiert und der Passant, der nach dem Weg zum Stadion gefragt wird, zittert nicht vor Angst. „Da, wo gerade der HSV-Bus reingefahren ist“, sagt er. In Sichtweite steht ein blauweißer Bus mit der Aufschrift „HSV Young Talents Team“. Bloß, warum steigen die jungen Talente schon aus, wo noch kein Fußballplatz zu sehen ist? Die Antwort gibt ein rotes Schild an der Straßenunterführung, vor dem der Bus zum Stehen gekommen ist: Maximal 3,50 Meter steht drauf. Das Beeke-Stadion ist auf so hohen Besuch nicht eingerichtet.

Zu Fuß geht es neben Trainer Rudolfo Cardoso und den Young Talents die letzten 200 Meter zum neuen Sehnsuchtsort der Fankultur, von dem später ein Vertreter der Ultras Hannover sagen wird: „Wir haben uns hier eine heile Welt geschaffen.“ Eine halbe Stunde vor Spielbeginn ist noch kein Einlass. „Mit den Ultras haben wir hier überhaupt keine Probleme“, sagt ein erfahrener Ordner. „Die benehmen sich alle einwandfrei.“ Ein jüngere Kollege kann gut verstehen, warum die Ultras die Profis nicht mehr unterstützen, sondern jedes zweite Wochenende nach Ricklingen rauskommen.

Im Stadion wirkt alles wie in jeder anderen in die Jahre gekommenen Viertliga-Spielstätte. Sie gehört den Sportfreunden Ricklingen, die Ende der 90er Jahre auch mal in der Regionalliga spielten, heute aber in der Bezirksliga herumdümpeln. Da sie aber noch den Regionalliga-Anforderungen genügt, wird sie seit der Saison 2012/2013 an den großen Nachbarn vermietet, dem die AWD-Arena als Spielstätte für den Nachwuchs zu teuer geworden ist. Als das Stadion sich eine halbe Stunde vor Spielbeginn gefüllt hat, haben sich nahezu alle der 1.400 Zuschauer auf der überdachten Haupttribüne eingefunden, ein paar Fans stehen noch vor der Vereinsgaststätte. Die Sitzplatztribüne ist komplett leer – sie ist wegen Baufälligkeit gesperrt. „Am Anfang haben wir überlegt, ob wir für eine Renovierung sammeln“, sagt Ultra-Sprecher Hans, der wie die die anderen seinen vollen Namen nicht in der Zeitung lesen möchte. „Aber dann hat sich herausgestellt, dass der Platz auf der Haupttribüne reicht.“

Die Ultras haben hier aber andere Dinge in die Hand genommen, wie die Stadionzeitung I-Block. Dort kann man Berichte über vergangene und bevorstehende Spiele der U23, aber auch der A-Jugend lesen. Über die Profi-Mannschaft stehen hier nur wenige Sätze, die sagen aber einiges: „Nur ein Punkt aus den letzten vier Spielen (das Hertha-Spiel nicht einbezogen) sorgen für Abstiegskampf. Uns spielt es in die Karten und wir würden auch in der 2. Liga unseren Verein unterstützen, wenn, ja, wenn wir nächste Saison wieder zu den Profis gehen sollten. Es bleibt abzuwarten.“

Als Arschlöcher beschimpft

Der in der Bundesliga bisher einmalige Konflikt zwischen Präsidium und organisierten Fans begann vor Jahren damit, dass Fans das Konterfei des Massenmörders Fritz Haarmann, der in Hannover zur Tourismus-Folklore gehört, trotz Verbots zeigten und der Verein mit Stadionverboten reagierte. Es folgte etwa der Satz von Präsident Martin Kind: „Ein Teil unserer Fans sind Arschlöcher.“ Und immer wieder gab es Streit über Pyrotechnik, die Einführung von Kollektivstrafen wie Preiserhöhungen für alle Fans in bestimmten Bereichen des Stadions und schließlich zwang ein Sicherheitskonzept die 96-Fans zur organisierten Anreise mit Bussen zum Auswärtsspiel in Braunschweig.

Auswärtskarteninhaber, die das nicht wollten, mussten sich ihre Karten vor Gericht erstreiten. Elf Klägern gelang das rechtzeitig, bei 86 weiteren wurde das Verfahren durch einen Befangenheitsantrag so verschleppt, dass es vor Anpfiff keine Entscheidung gab. Im Nachhinein bekamen auch sie Recht. “Die Problemlage ist über die Jahre so angewachsen, dass sie sich nicht mit einem offenen Brief oder Fingerschnipsen aus der Welt schaffen lässt“, sagt Ultra-Sprecher Hans.

Die spartanische Haupttribüne in Ricklingen hat sich inzwischen in eine farbenfrohe Fankurve verwandelt. Aus dem Fancontainer werden Fahnen geholt und die Werbebanden mit den Transparenten der verschiedenen Ultra-Gruppierungen behangen. Auch die Ränge sind schnell besetzt. „Hier ist die Stimmung besser als bei den Profis“ sagt der 17-jährige Hannes. „Was wir hier machen, ist für die Spieler jedes Wochenende eine Erlebnis“, sagt der etwas ältere Alex. „Das ist keine Selbstverständlichkeit wie beim Premium-Produkt von Martin Kind.“

Von hinten ruft einer: „33 Euro habe ich gestern im Stadion für Langweile bezahlt, hier zahle ich fünf und hab Party!“ Einige der jungen Fans gehen auch noch zu den Profis, aber nur als „neutrale Zuschauer, nicht als Fan“, wie immer wieder betont wird. Diejenigen, die da waren, erzählen von der vergifteten Atmosphäre, von Fans, die „Kind muss weg“ rufen und von denen, die alle als „Idioten“ beschimpfen, die wie Ultras aussehen. Beim Großteil der Anhänger von Hannover 96 gilt der Hörgeräteunternehmer Kind als großer Präsident, ohne den der Klub nicht lebensfähig ist. Im Beeke-Stadion brüllt keiner gegen Martin Kind, hier konzentrieren sich die Fans auf die eigenen Stärke: Mit Spielbeginn legen die beiden Einpeitscher, die sogenannten Capos, los und bis zum Abpfiff hören die Gesänge und Sprechchöre nicht mehr auf. „Amateure, Hannover Amateure, ihr seid unsere Zukunft, darum sind wir hier.“ Hinter den Fans führt Magdalena die Grillzange rhythmisch durch die Luft. „Ich kriege eine Gänsehaut“, sagt die adrette Dame mittleren Alters, die hier als Aushilfe arbeitet. „Ich finde es toll, was die hier auf die Beine stellen, die Choreografien und die Gesänge.“

Toll findet das auch der 66-jährige Gerd Bohlen-Janßen, seit seiner Jugend Vereinsmitglied bei Hannover 96 und heute das zweite Mal im Beeke-Stadion. Er sieht die Ultras eigentlich eher kritisch und bleibt auf Distanz. „Gestern Abend im AWD-Stadion brüllt mich plötzlich ein völlig besoffener Hüne an: ‘Kind muss weg’“, erzählt er. „Ich habe bald keine Lust mehr, das driftet langsam ab.“ Dann wendet er den Blick zur Haupttribüne, wo es gerade wieder lauter wird. „Was wir hier erleben, müsste es auch im Stadion wieder geben, ich hoffe, dass sie wiederkommen.“

Das hoffen viele. Hier und da hört man munkeln, dass es hinter den Kulissen Gespräche zwischen Vereins- und Fanvertretern gibt. Ein Sprecher der IG Rote Kurve, der ursprünglichen Dachorganisation der Fangruppen, die sich nach den Querelen mit dem Präsidium als Verein aufgelöst hat, macht aber deutlich, was die Voraussetzungen für den Weg zurück sind: Eine Entschuldigung des Präsidiums, keine Kollektivstrafen mehr und verlässliche Strukturen. „Wir sind doch nicht der Stimmungsdienstleister des Vereins“, sagt er.

Wertschätzung entdeckt

Auch wenn die Ultras und andere Fangruppen nächste Saison wieder ins Profi-Stadion zurückkehren sollten, nehmen sie etwas mit: „Wir haben hier Sachen wiederentdeckt, die wir in der Bundesliga gar nicht mehr so gesehen haben. Die Wurst kommt noch vom Holz-Kohle-Grill, das Bier kostet 2,50, wir bezahlen bar, man kann mit den Ordnern reden, es gibt eine Interaktion mit den Spielern, man spürt deren Wertschätzung“, sagt Ultra-Sprecher Hans. „Die Liebe zum Fußball ist eher noch gewachsen.“

Die Hannoveraner Spieler klatschen zum Schluss fast alle Zuschauer einzeln ab. Kapitän Roman Prokoph macht die ganz große Runde und geht auch noch zu den Fans, die von der Straße durch eine Lücke des Zauns gucken. Er geht als letzter vom Platz und sagt: „Es macht Spaß, vor solchen Fans zu spielen.“ Draußen hört man ihn dann doch noch, den „Kind muss weg“- Ruf. Von einer Gruppe schwer angeschlagener Hamburger Fans. Ach ja, zwei Zahlen noch: verbürgtes Ergebnis: 2:3, gezählte Polizisten: 4.

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