: Wählen als Christenpflicht
Aller Voraussicht nach wird die Wahlbeteiligung bei der Landtagswahl in Niedersachsen so niedrig sein wie nie zuvor. Parteien, Kirchen und Verbände versuchen, dem entgegenzuwirken
VON KLAUS IRLER
Gregor Gysi hat so seine eigene Art, ins Geschehen einzugreifen. „Zum Kotzen langweilig“ sei der Wahlkampf, sagt Gysi und meint damit, dass der Voraussicht aller Demoskopen nach die CDU-FDP-Regierung in Niedersachsen an der Macht bleibt. Je gesicherter der Machterhalt aussieht, desto mehr potentielle CDU-Wähler werden sich am Sonntag den Gang zum Wahllokal sparen – warum auch wählen, wenn Gysi sowieso schon kotzt.
Gysis eigene kleine Partei, Die Linke, wird diese Mobilisierungsprobleme ihrer Wählerschaft nicht haben. Jüngsten Meinungsumfragen zu Folge hat die niedersächsische Linke mit ihrer Spitzenkandidatin Kreszentia Flauger erstmals die Chance, in das Parlament eines westdeutschen Flächenlandes einzuziehen. Die Linke würde profitieren von einer geringen Wahlbeteiligung bei der niedersächsischen Landtagswahl am Sonntag, ebenso wie die NPD. Dementsprechend eindringlich appelliert Landtagspräsident Jürgen Gansäuer (CDU) an die Bürger: „Nutzen Sie die Wahl als demokratisches Mittel, aktiv am politischen Leben teilzunehmen.“
Dass die Wahlbeteiligung am Sonntag Richtung „historisches Tief“ tendieren wird, gilt als ausgemacht: Wahlleiter in Hannover und Osnabrück registrieren einen deutlichen Rückgang der Stimmabgaben per Briefwahl und Hannovers Wahlleiter Hubert Harfst hofft in der HAZ, „dass wir am Sonntag die 60-Prozent-Marke erreichen“. Bei der letzten Landtagswahl im Jahr 2003 gaben 67 Prozent der Wahlberechtigten ihre Stimme ab, im Jahr 1998 waren es noch 73,8 Prozent und 1986 sogar noch 77,3 Prozent. Eingesetzt hat der Trend eines rückläufigen Interesses an Landtagswahlen allerdings bereits in den 1960er-Jahren.
Einhellig rufen Gewerkschaften und Arbeitgeber zu einer Beteiligung an der Landtagswahl auf, selbst die Kirchen beider Konfessionen erklären: „Wählen ist eine Christenpflicht“. In Hannover hat das Wahlamt sogar ein eigenes Wahlamt für Obdachlose eingerichtet, deren Beteiligung sonst daran scheitern würde, dass sie keine Wahlbenachrichtigung zugeschickt bekommen können. Bei diesem Angebot allerdings, sagt Philippe Enderlin vom Wahlamt Hannover, ginge es nicht um die Zahl der Beteiligten, sondern darum, dass „diesen Menschen ihr demokratisches Recht gewährt wird“. Bis Freitag hätten 25 der rund 2.000 Obdachlosen in Hannover das Angebot genutzt.
Unterdessen warnt CDU-Spitzenkandidat Christian Wulff mit zunehmender Nervosität vor einem „Linksruck“: „Es ist abscheulich, was diesem Land und unserer Bevölkerung zugemutet wird mit diesen Populisten und Kommunisten, die in die Geschichtsbücher gehören und nicht in die Parlamente.“ Und bekommt als Replik von Linken-Spitzenpolitiker Gysi: „Mit uns kommt Leben auf im Landtag. Wir würden den Ruf verlieren, eine reine Ostpartei zu sein und bundespolitisch mehr wahrgenommen werden.“
Ob Die Linke den Einzug in den Landtag in Hannover schafft, ist eine von zwei spannenden Fragen. Die andere Frage ist, wie sehr die Wahlbeteiligung sinkt – und ob es danach seitens der Politik eine Idee gibt, dem Abwärtstrend zu begegnen.
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