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streikwegeVom Bett ins Café

Wer mich sucht, der findet mich in diesen Tagen höchstwahrscheinlich an der Raumer-, Ecke Dunckerstraße. Da sitze ich hinter den raumhohen Fenstern des Café Liebling und schaue auf den Helmholtzplatz oder den Gemüsevietnamesen schräg gegenüber, der zwar keine Brötchen verkauft, aber immerhin „Tabackwaren“, wie auf der roten Markise zu lesen ist. Gerade läuft eine Grundschulklasse am Fenster vorbei, die wahrscheinlich einen Ausflug ins Zeiss-Großplanetarium an der Prenzlauer Allee gemacht hat. All die Kinderwagen, die an mir vorbeigeschoben werden, muss ich wohl nicht erwähnen. Wenn ich keine Lust mehr habe, Bugaboos zu zählen oder Mütter zu beobachten, lese ich Zeitung, surfe im Internet oder tippe Texte in meinen Laptop – wie diesen hier. Himmlisch.

Seitdem die BVG streikt, habe ich den Prenzlauer Berg genau dreimal verlassen: einmal zu Fuß, weil ich am Rosa-Luxemburg-Platz mit einem Kollegen verabredet war, und zweimal mit der S-Bahn, weil ich Termine an der Friedrichstraße hatte. Das kann zwar nicht ewig so weitergehen, aber – gerade parkt übrigens ein grauer Transporter des TSL-Tischlerservice vor meinem Fenster zur Welt ein – eigentlich gehöre ich auch außerhalb der Streikzeit zu den Menschen, die ihren Kiez nur verlassen, wenn’s unbedingt sein muss. Ich bin schließlich hierhergezogen, weil es mir hier gefällt und nicht woanders. Wegziehen kommt nicht infrage – auch wenn Freunde schon länger behaupten, was die Zitty in ihrer aktuellen Ausgabe nachplappert: „Neukölln rockt“. Mir doch egal.

Weil mein Fahrrad in einem Leipziger Keller verstaubt und ich zu Beginn des Streiks das Gefühl hatte, ein bisschen Mobilität könne nicht schaden, war ich auf dem Weg zu meiner Verabredung am Rosa-Luxemburg-Platz in einem Gebrauchtfahrradladen an der Schönhauser Allee. Der Verkäufer hat mich geduzt und hätte mich fast ausgelacht. Ein günstiges Gebrauchtes in meiner Größe – ich bin nicht gerade klein – damit könne er im Moment nun wirklich nicht dienen. Gerade ist ein Mädchen an meinen Tisch gekommen und hat gefragt, ob das hier das Liebling ist. Meine Antwort hat ihr offenbar missfallen. Sie hat das Lokal jedenfalls gleich wieder verlassen. Ein Maler läuft am Fenster vorbei, er trägt einen sehr kleinen Farbeimer. Lassen meine finanzkräftigen Nachbarn mittlerweile auch die Behausungen ihrer vierbeinigen Freunde vom Fachmann weißeln?

Ich habe noch einen Cappuccino bestellt, übrigens der beste vom ganzen an Cafés nicht gerade armen Helmholtzplatz. Das sage ich nicht nur, damit ich weiter hier rumsitzen kann, ohne allzu viel Umsatz zu machen, sondern vor allem, weil es stimmt. Auch mit der Zeitschriftenauswahl bin ich überaus zufrieden. Nur die anderen Stammgäste könnten endlich mal anfangen, mich zu grüßen, wenn sie reinkommen. Ein erkennendes Nicken würde ja reichen. Ob das in Neukölln anders wäre?

Ein Ende des BVG-Streiks ist schwer absehbar, das Ende meines Sitzstreiks im Liebling dagegen schon. Nächsten Dienstag habe ich einen Termin in München. Dann werde ich wohl die S-Bahn nehmen und ausnahmsweise am Südkreuz in den ICE steigen und nicht am Hauptbahnhof. Bis dahin bleibt mir aber noch viel Zeit, im Liebling zu sitzen und aus dem Fenster zu starren – ohne dabei ein schlechtes Gewissen zu haben. Ein Hoch auf die BVG! DAVID DENK

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