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Von den „Freundinnen junger Mädchen“ zur Bahnhofsmission

Die Bremer Bahnhofsmission feiert ihr 110-jähriges Bestehen. Früher zählten Dienstmädchen, die vom Land in die Stadt kamen, zur Klientel, heute sind es Gestrandete aller Art

Vor 110 Jahren machte in Bremen mal wieder das Freimarktfieber Schlagzeilen. Alle Welt sprach von den Attraktionen auf dem Rummel, vom „Theater Merveilleux“, von Haberjahns „Hyppodrom“ oder Mr. Barums dressierten Riesendoggen. In der Öffentlichkeit fast unbemerkt nahm die Bremer Bahnhofsmission als eine der ersten Einrichtungen dieser Art in Deutschland 1898 ihre Arbeit auf. Ihr 110-jähriges Bestehen wurde am Freitag mit einem kleinen Festakt im Bahnhof gewürdigt.

Die Bahnhofsmission war ein Gemeinschaftswerk des Vereins für Innere Mission, des Bremer Ortsvereins der „Freundinnen junger Mädchen“ und der „Mägdeherberge Marthasheim“. Ihnen ging es zuerst um den Schutz junger Frauen, die als Dienstmädchen eine Stellung in der Stadt suchten. Manche schätzten den Hauptbahnhof als „ein Paradies der Diebe und ein Tummelplatz der Schwindler“ ein, heißt es in einer historischen Quelle: „Unzählige geheime Verbindungen gehen von ihm in die Absteigequartiere und die Häuser der Unzucht und in die Keller der Diebesbanden.“

Den jungen Mädchen sollte „Geleit“ auf dem Weg zu ihren Herrschaften gegeben werden. Wer noch keine Stellung hatte, bekam ein „christliches Haus“ vermittelt. Bis die Mädchen ihre Arbeit antreten konnten, gaben ihnen „Freundinnen“ Herberge im Marthasheim in der Neustädter Osterstraße. Eine hauptamtliche „Berufsarbeiterin“ hängte Plakate in den Zugabteilen der dritten und vierten Klasse aus und bot die Unterstützung der Bahnhofsmission an. Eine enge Verbindung zwischen Bahnhofs- und Auswanderermission belegt die Hilfe für alleinreisende Frauen und Mütter, die über Bremerhaven in die USA auswandern wollten.

Im ersten Weltkrieg warb die Berufskraft erstmals ehrenamtliche Unterstützung an, weil die Arbeit anders nicht mehr zu schaffen war. Nach Ende des Krieges wandelte sich die Einrichtung zu dem, was sie bis heute geblieben ist: In enger Zusammenarbeit mit kirchlichen und sozialen Initiativen entstand ein Fürsorgedienst für Reisende und Menschen mit sozialen Problemen.

Die Nationalsozialisten bereiteten der Hilfe 1938 allerdings ein jähes Ende. Als die ersten Militärtransporte durch Bremen rollten, übernahmen die „Nationalsozialistische Volkswohlfahrt“ und das gleichgeschaltete Rote Kreuz die Betreuung. Doch unmittelbar nach Kriegsende im Mai 1945 startete der Verein für Innere Mission die Arbeit erneut. Wenige Wochen später kam die Caritas dazu. Seither arbeiten evangelische und katholische Kirche in der Bahnhofsmission zusammen.

Zuerst ging es neben hilfsbedürftigen Reisenden wie Kindern, alten, gehbehinderten und blinden Menschen um Flüchtlinge und heimkehrende Kriegsgefangene, die in zwei erbärmlichen Wellblechhütten an Gleis 1 betreut wurden. Bald kamen die ersten „Gastarbeiter“ in die Herberge, die zwischenzeitlich durch einen Steinbau ersetzt wurde. Später waren es Reisende aus der DDR. Den letzten ganz großen deutsch-deutschen Ansturm erlebte die Bahnhofsmission 1989 nach dem Fall der Mauer.

Mittlerweile ist die Einrichtung im Ostflügel des Hauptbahnhofes etabliert. Schon seit vielen Jahren gehören wohnungslose, drogenabhängige, alkoholkranke und psychisch verwirrte Menschen zu den Stammgästen. Im vergangenen Jahr zählte die Bahnhofsmission nach Angaben ihrer Leiterin Renate Hansen mehr als 35.000 Kontakte. Sie und ihre Kollegin Christiane Schulten und 30 Ehrenamtliche betreuen täglich bis zu 110 Menschen, bei steigender Tendenz. Hansen: „Wir spüren die zunehmende Armut und die Erwerbslosigkeit.“ Dieter Sell

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