ausgehen und rumstehen: Menschen am Sonntag
Komm, mein Hühnchen, zieh das Großgeblümte an und fall aus der Zeit mit mir. Dreh dich, dreh dich, dreh dich bis dahin, wo die böhmischen Dörfer blühen.
Sonne oder Schatten, fragst du. Meinetwegen, sage ich. Wir lehnen uns an den rostigen Drahtzaun, hinter uns die Gärten, die aneinander grenzen und ihre Obstbaumzweige einander zureichen und ihre Zwetschgen, Kirschen, Pflaumen, Äpfel und Birnen über lebendige Hecken weg nachbarschaftlich austeilen. Vor uns das Buckelpflaster mit seinen sentimentalen Rundungen. Die Kletterrosen kitzeln dir den Nacken. Dann muss ich ihn wenigstens nicht kraulen. Mir kitzeln die Blüten in der Nase. Zum Glück habe ich von meinem Großvater Stofftaschentücher geerbt. Wir horchen der sonnenschweren Luft hinterher.
Du hast extra dein Akkordeon mitgebracht, das leicht schief verstimmte. Ich kann auch nur schief singen. Das Liederbuch von Franz Josef Degenhardt habe ich dabei, das von Tom Liwa, Wilhelm Raabes „Die Akten des Vogelsangs“ und Adalbert Stifters „Der Nachsommer“ auch und Helmut Salzingers gesammelte „Jonas Überohr“-Kolumnen.
Mitten in Neukölln sind wir – aber ganz weit weg aus Berlin. Hier im ehemaligen Böhmisch-Rixdorf, zwischen Donau- und Richardstraße, in der Kirchgasse, hält die Stadt die Luft an, seit 250 Jahren, immer noch im Geiste der Einwanderer, deren Nachfahren gerade das Auftaktspiel zur EM 2008 gewonnen haben. Tschechische Namensschilder erinnern an die Herkunft; im sommerlichen Pflaster, den Gräsern zwischen dem Pflaster, den Giebeln, den Komposthaufen, den Rosenstöcken bleibt sie lebendig, mache ich dich aufmerksam. „Es ist ein eigenes, erquickendes Labsal, die reine Luft des heiteren Sommers zu atmen“, erwiderst du. „Es ist die erhebendste Nahrung, die uns der Himmel gegeben hat“, antworte ich. „Unsere Karma-Tankstelle“, lispelst du wohlig. Du zitierst Salzinger, der sich 1974 selbst analysiert: „Helmut Salzinger konstatiert überall die Symptome des Zusammenbrechens. Seine praktische Konsequenz daraus zieht er mit der Flucht in die Naturidyllik.“ Dein Knie ist nackt. Ich zupfe mit den Zehen Grashalme aus den Steinritzen. In der Mittagsglut flimmert ein Fuchs vorbei. Da, siehst du ihn, hinter dem Jägerzaun? Wir spitzen die Ohren. Er beachtet uns nicht. Keine Ironie, keine großen Sprüche, keine Politik, nur die diesige Stille mit Häkelborte. Das Einfachste ist das Leichteste ist das Beste. „Ich werd für dich tanzen, den süßesten Tanz, den ich je getanzt hab‘“, summst du hinaus. „Ich werd mit einer Stimme singen, so betörend, wie du es nie gehört hast“, flechte ich hinein.
Du greifst zum Akkordeon, die Käfer ducken sich weg. Und wenn die anderen sagen, sie haben ihren Flug gebucht, Gott sei Dank und auf letzten Drücker, nach Spanien, Griechenland, in die Karibik, dann nehmen wir Hand in Hand und drehen uns, drehen uns, drehen uns bis in die Kirchgasse.
Und in der höchsten Stunde des Fauns faucht das orange Tankwagen-Moped mit dem Kacke-Rüssel heran, schnorchelt brüllend den Hundekot vom Bordstein und weckt uns zurück in die Welt. Hinterm Regenbogen, auf der großen Straße, hupen Wagen wütend auf uns ein. Doch wir fahren ganz langsam weiter, summen ein Liedchen, lassen uns ruhig mal reaktionär sein, träumen von einem kleinen Dorf, einem Dorf, einem Dorf.
JAN JOSWIG
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen