90 minuten in einer barackensiedlung am tiber: Die Freude und die Angst davor
Als der Rumäne Mutu einen Elfmeter verschießt, stößt Petre finstere römische Flüche aus
Wer bei Giorgio an die Pforte klopft, dem wird nicht per Gegensprechanlage geantwortet. Ein Esel schreit, zwei Hunde bellen, drei Hühner gackern und ein paar der 15 Ponys am Fluss grüßen mit einem Wiehern.
Vor seiner Wellblechhütte hat Giorgio, der eigentlich Gheorghe heißt, einen kleinen Fernseher aufgestellt, um den sich Cousins, Brüder, Freunde und Bekannte aus den umliegenden Hütten geschart haben. Sie sind alle aus Rumänien nach Rom gekommen, leben hier in der Barackensiedlung am Tiber, in anderen Lagern oder unter Brücken. Italien gegen Rumänien ist für sie kein normales Spiel.
Ein bisschen hat Giorgio Angst, dass Italien gewinnt. Nicht, weil er so an der rumänischen Mannschaft hängt. Aber die Freude der Italiener könnte in Missgunst umschlagen. Die Stimmung ist aufgeheizt: Gerade erst wurde in Neapel eine Barackensiedlung angezündet, der Bürgermeister von Rom hat begonnen, solche improvisierten Dörfer abreißen zu lassen. Seit einem halben Jahr habe er richtig Sorgen, sagt Giorgio. Florian, der mit ausgemergeltem Gesicht neben ihm sitzt, hat erst vor drei Wochen von ein paar Ragazzi Prügel bekommen, einfach so. Das Spiel läuft, Rumänien hält mit, und Florian reibt sich bei der ersten Chance der Rumänen die Hände. Giorgio meint, Rumänien würde nie gewinnen, die Spieler Chivu und Mutu seien gekauft. Von den Italienern natürlich. Beide spielen in der italienischen Serie A. Als Chivu an den Pfosten und Mutu das 1:0 für Rumänien schießt, nimmt Giorgio seine These zurück.
Es wird laut gejubelt beim Führungstor. Doch als Italien ausgleicht, ist Giorgio erleichtert. „Zum Glück“, sagt er. „Wenn Rumänien gewinnt, werden die hier richtig sauer.“ Seine Söhne laufen in Trikots des beliebtesten Fußballers in Rom, Francesco Totti, herum. „Damit sie wie die Kinder der Römer aussehen, und ihnen nichts passiert.“ Als Mutu einen Elfmeter verschießt, stößt Petre die finstersten römischen Flüche aus. Florian schleudert Brot zum Esel. Abpfiff, 1:1. „Geht in Ordnung“, meint Giorgio.
Es gibt Essen. Eine Torte aus Mayonnaise und Ei, mit Reis und Fleisch gefüllte Weinblätter, Käse und große Schnitzel. Die Frauen haben gekocht. „Luigi, Giorgolino – Essen!“ ruft Giorgio.
JULIUS MÜLLER-MEININGEN
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen