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Der Rhythmus des Begehrens

Vom Bewusstsein eines glücklich gesteigerten Daseins: Die im Nachlass gefundene Erzählung „Eine Frau zu sehen“ befeuert die Wiederentdeckung von Annemarie Schwarzenbach

Eine Frau zu sehen“ ist ein schmaler Band, eine Skizze eher denn eine abgeschlossene Erzählung. Er stammt aus dem Nachlass der Schweizer Schriftstellerin Annemarie Schwarzenbach und entstand Ende der 20er-Jahre. Schwarzenbach war damals 21 Jahre alt, Tochter einer Industriellenfamilie aus Zürich. Noch sollte es einige Jahre dauern, bis sie zu ihren spektakulären Reisen nach Persien und in abgelegene Täler des Hindukusch aufbrach. Zeit ihres kurzen, aufwühlenden Lebens war ihr nur bescheidene Berühmtheit vergönnt, nach ihrem frühen Tod (sie starb 1942, das Morphium, das sie nahm, wird dabei eine Rolle gespielt haben) war sie vor allem lesbischen Intellektuellen ein Begriff. Erst mit dem 100. Geburtstag am 23. Mai und der Edition von „Eine Frau zu sehen“ wächst das allgemeine Interesse.

Im Mittelpunkt des Bandes steht eine Icherzählerin, die der Autorin aufs Haar gleicht. Schauplatz ist ein Hotel in einem mondänen Ort im Engadin. Es gibt Freunde, Schneelandschaften, Skitouren, Abendessen. Und es gibt eine Frau, ihr Name ist Ena Bernstein, ihr Weg kreuzt den der Icherzählerin an der Schwelle von Lift und Lobby, und fortan genießt diese das „Bewusstsein eines glücklich gesteigerten Daseins“. Man könnte dazu auch Verliebtheit sagen, klänge das Wort nicht eine Spur zu banal, um eine Ahnung von Schwarzenbachs fiebrig-erregtem Stil zu vermitteln. In dem Maße, in dem die Icherzählerin zum ersten Mal in ihrem Leben das innere Beben erlebt, das das Hingezogensein zu einem anderen oder einer anderen auslöst, in dem Maße erforscht auch die Autorin Schwarzenbach die ihr eigene, in ihrem späteren Oeuvre vervollkommnete Sprache. Es ist eine entzündete, eine erregte Sprache. Die Sätze stehen unter Spannung, ihr Rhythmus hat wie das Begehren der Erzählerin etwas Drängendes. Wenn Ena Bernstein und die Erzählerin einander zum ersten Mal begegnen, liest sich das so: „Ja, in dieser Sekunde zu fühlen, wie auch sie stockt, beinahe schmerzhaft unterbrochen im Gang der Gedanken, als zögen sich ihre Nerven zusammen, von meinen berührt.“ Einige Seiten später kommt die Erzählerin auf diesen Augenblick an der Schwelle von Lift und Lobby zurück: „Ich fühle unwiderstehlich den Drang, mich ihr zu nähern, herber, schmerzlicher noch, dem ungeheuren Unbekannten zu folgen, das sich wie Sehnsucht und Aufforderung in mir regt.“

Was in dieser Sekunde geschieht, ist wie eine blitzhafte Erkenntnis: Es gibt ein wechselseitiges Begehren, obwohl es gesellschaftliche Konvention nicht duldet. Es gibt jenseits dieser Konvention einen Modus des Dechiffrierens und Sichentdeckens, der keiner starken Gesten, keiner eindeutigen Zeichen bedarf und doch voller Energie ist. Ein großer Teil der Schönheit von „Eine Frau zu sehen“ liegt in ebendieser Mischung aus Subtilität und Drängen, aus kodierter Kommunikation und größter Offenheit. Denn die Erzählerin stellt ihre Hingezogenheit zu einer Frau in keinem Augenblick in Frage, selbst wenn sie am Rande ihrer Wahrnehmung erlebt, wie sich ein „Netz von Beobachtung und Gerede“ um sie spinnt.

Einmal widerfährt ihr ehrliche Anteilnahme. „Ich habe Ihnen schon gesagt“, rät ihr ein älterer Freund, „wie gefährlich es ist, das Urteil der Gesellschaft gegenüber dieser Frau zu missachten und sich über die Schranken einer Moral hinwegzusetzen, welche eine Berechtigung hat als Hüterin einer notwendigen wie auch engen Ordnung.“ Das ist nicht bös gemeint, sondern Ausdruck aufrichtiger Sorge. Was, fragt sich der väterliche Freund, wenn der Grad der Erregung die Kräfte der Erzählerin übersteigt? Für den Text aber ist genau diese Verausgabung ein Geschenk.

CRISTINA NORD

Annemarie Schwarzenbach: „Eine Frau zu sehen“. Herausgegeben von Alexis Schwarzenbach. Kein & Aber, Zürich 2008, 80 Seiten, 12,90 Euro

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