: Die Kunstwundertankstelle
Das Wohn- und Atelierhaus des Schweizer Galeristen Juerg Judin in der Schöneberger Bülowstraße ist ein Architekturjuwel: Ein Bau in kantiger Formensprache, der eine der letzten Wirtschaftswundertankstellen Berlins kunstvoll integriert
VON BRIGITTE WERNEBURG UND DOMINIKUS MÜLLER
„Converted Warehouse“ war einmal. Heute geht es nicht mehr darum zu demonstrieren, wie aus den Ruinen der Industriegesellschaft ex post eine kreative Dienstleistungsindustrie aufersteht. Nachdem die Situation der selbstständigen Kreativarbeiter inzwischen mehr prekär als nur paradox genannt werden muss, ist das Modell in die Krise geraten.
An der beispielgebenden Leuchtturmfront baut man jetzt Bunker um, in denen man seine millionenschwere Kunstsammlung einlagert und oben drauf ein luftiges kalifornisches Case-Study-Haus setzt – oder Tankstellen. In Zeiten rasant steigender Öl- und Benzinpreise ist auch das ein Statement.
Juerg Judin allerdings, der Herr über die „Converted Tankstelle“, hat selbst kein Auto, ja nicht einmal einen Führerschein. Trotzdem hatte es die alte Shell-Tankstelle aus den 1950er-Jahren in der Schöneberger Bülowstraße dem Schweizer Galeristen schon lange angetan. Mehr als zehn Jahre lang ging er auf dem Weg zu seiner Berliner Wohnung an ihr vorüber. Damals kam der Züricher noch als unabhängiger Filmverleiher und -produzent in die Stadt. Als er sich dann 2006 mit Haunch of Venison als Galerist in der Stadt niederließ, wusste er plötzlich genau, was er mit der Tankstelle anfangen wollte.
Er restaurierte das kleine Gebäude der Shell-AG, das jahrelang sein Dasein als Werkstatt und Lager gefristet hatte, entsprechend der hier offiziell nicht einmal vorhandenen Vorgaben des Denkmalschutzes und stellte einen schmalen Neubau daneben. Und so öffnet sich nun – verborgen hinter einer zwei Meter hohen Mauer, die eigentlich nur ein Meter 50 hoch sein dürfte – ein grandioses Arrangement aus der alten Tankstelle, deren dynamisch-fortschrittsgläubiges Freidach den wohl exklusivsten Sonnenschutz nicht nur westlich des Potsdamer Platzes darstellt, einem neuen, dezenten und unaufdringlichen Anbau und einem Ruhe ausstrahlenden Garten inklusive Seerosenteich und von der Ostsee importierten Kiefern. Die Anlage vereinigt Geschichts- mit Stilbewusstsein und integriert ein Relikt der Wirtschaftswunderzeit in ein Luxusensemble modernster Haus- und vor allem Gartenbaukunst. Damit ist es schon jetzt, kurz nach seiner Fertigstellung, eines der absoluten Architekturhighlights der Stadt.
Der ehemalige Verkaufsraum beherbergt das Büro, und in der alten Werkstatt, wo der Wagenheber stand, prunkt eine ausladende Edelstahlküche von Profiformat. An die Hinterfront ist eine knallrote Blechkiste gerückt, in der sich das Gästebad befindet. Ein schmaler Verbindungsgang führt in den Anbau, den der Galerist Stefan Flachsbarth, Kai Bröer und Michael Schultz vom Planungsbüro bfs-design verdankt, die bisher durch Innenumbauten in Erscheinung traten, etwa die Umgestaltung des Restaurants „Alpenstück“, in der Gartenstraße in Berlin-Mitte oder die Konzeption der MTV-Kantine an der Oberbaumbrücke.
Der zweistöckige, langgestreckte und containerartige Bau in klarer, kantiger Formensprache ist dezent an die Tankstelle angefügt, deren Wirkung er in seiner unaufdringlichen Neutralität kaum stört. Im Gegenteil: Der aus einer doppelschaligen, mit weißlich-transparentem Dämmmaterial gefüllten, Industrieglasfassade errichtete Würfel wirkt wie ein nach außen gestülpter White Cube, der die feingliedrige Architektur der alten Tankstelle umso mehr zur Geltung kommen lässt.
Über den freizügigen Wohnräumen im Erdgeschoss erstreckt sich im oberen Stockwerk ein großer Ausstellungs- und Atelierraum. Das Ensemble war ursprünglich keineswegs als privates Wohnhaus gedacht, auch wenn der 45 Jahre alte Schweizer nach seiner Trennung von Haunch of Venison momentan in diesem Ambiente seine Zelte aufgeschlagen hat. Ursprünglich sollte es als Standort des galerieeigenen Artist-in-Residence-Programms dienen, eine Idee, von der Juerg Judin noch immer nicht lassen will. Im Herbst eröffnet er mit seinem New Yorker Partner David Nolan eine Galerie, wieder in der Heidestraße, wo er schon die Räume für seine früheren Geschäftspartner fand. Keine Frage, dass Nolan/Judin ein Artist-in-Residence-Programm haben werden.
Wenn ihn jetzt die Taxifahrer am Tor der zwei Meter hohen weißen Umfassungsmauer in der Bülowstraße absetzen, „stellt sich heraus“, so Judin, „dass jeder hier schon mal einen Club oder ein Restaurant betrieben hat“. In Gedanken, versteht sich. Denn für die Überzeugungsarbeit, die es zu leisten galt, die Abbruchsforderung des Eigentümers Shell AG ebenso zu umgehen wie die Bauordnung der Stadt Berlin, brauchte schon einen so umtriebigen wie gleichermaßen charmanten Typen wie Juerg Judin.
Und es brauchte sein spezielles Faible für Tankstellenarchitektur als einem besonderen Kapitel des Modernismus im 20. Jahrhundert, das nicht zuletzt in dem Stolz deutlich wird, mit dem er das alte Faller-Modell präsentiert, das ihm ein Freund schenkte und das exakt seine Tankstelle zeigt, freilich seitenverkehrt. Vielleicht hat er ja mit diesem Modell auch die Damen vom Amt geködert, die dann glücklicherweise den Mut hatten, die Bauordnung zugunsten seines Projekts zu interpretieren?
Statt der üblichen Blockrandbebauung mit einem sechsstöckigen Wohnhaus steht hier also noch eine der letzten von Berlins wenigen verbliebenen Wirtschaftswundertankstellen. Allerdings wird sie nun – den Zeiten eines neuerlich boomenden Umweltbewusstseins angemessen – von Störchen angesteuert. Die Zierkarpfen verstecken sich seither unter der Brücke, die über den schmalen Wasserlauf entlang der Mauer an der Bülowstraße auf das Tankstellenareal führt.
Der Garten wurde vom Schweizer Landschaftsarchitekten Guido Hager konzipiert, der Judin den „einen seiner zwei schwierigen Bauherrn“ nannte. Der andere ist noch immer Muammar al-Gaddafi. Für ihn arbeitet Hagers Büros momentan an der Umgestaltung der Parkanlagen in Libyens Hauptstadt Tripolis.
In jedem Fall waren die Schwierigkeiten, mit denen sich Hager in Berlin konfrontiert sah, von etwas anderer Natur als die in Tripolis. Bei all seinem lässigen, unkomplizierten Auftreten ist Juerg Judin am Ende doch ein hartnäckiger, durchsetzungsfähiger Perfektionist. Anders ist das kleine Architekturjuwel, inmitten eines eher schäbigen, von Dönerbuden, Hochbahntrasse und Straßenstrich bestimmten Kiezes, nicht zu erklären.
Natürlich weckt Judins Kunstwundertankstelle höchste Erwartungen an die Eröffnung seiner Kunstwundergalerie Nolan/Judin am 5. September. Mit dem schottischen Lyriker, Schriftsteller und (Garten-)Künstler Ian Hamilton Finlay knüpft die Schau aber erst einmal so unkompliziert an das Paradies in der Bülowstraße 18 an, dass man eine Enttäuschung wohl nicht fürchten muss.
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