: Durch Gärten in die Vergangenheit
Die Künstlerin Oxana Chi tanzt mit einer Hommage an eine 1944 in Auschwitz ermordete jüdische Tänzerin gegen das Vergessen an
VON SVENJA BERGT
Die Anfangsszene erinnert an den Beginn des „Kleinen Prinzen“: Oxana Chi kriecht durch einen riesigen Schlauch aus rotem Samt und sieht darin aus wie der Elefant in der Boa Constrictor. Doch es ist natürlich keine Schlange, durch die sich die Tänzerin zu langsamen Paukenschlägen schiebt, sondern eine Art Geburtskanal. Oxana Chi ist Tatjana Barbakoff und wird auf der Bühne gerade geboren.
Nach der Probe sitzt Chi auf einer der Holzbänke in der Kreuzberger Naunynritze. Ihr blaues Gewand hat sie gegen eine Trainingsjacke getauscht und trinkt Wasser in vielen kleinen Schlucken. Das Tanzen ist anstrengend, bei der Luftfeuchtigkeit im Proberaum noch mehr als sonst.
„Durch Gärten“ heißt Chis aktuelle Inszenierung, oder, im vollständigen Titel, „Durch Gärten; Die Gärten; Der Garten, die Gärten, wie durch Gärten“. Was klingt wie eine Deklinationsübung, ist in Wirklichkeit ein Versuch, einem Stück, dass sich immer etwas wandelt, einen angemessenen Titel zu geben. „Wir wollen frei sein, etwas zu verändern“, erklärt Chi. Denn auf ihrer „Kieztournee“ sind Chi und ihre beiden Musiker Beate Gatscha und Martin Sommer ganz unterschiedlichen Räumlichkeiten ausgesetzt. Holzboden folgt auf Steinboden mit Tanzteppich, Säulen oder Wandbehang verändern den Raumklang.
Der Titel gibt auch einen Hinweis auf das Thema der Inszenierung – eine Hommage. Tatjana Barbakoff ist ihr Adressat. Eine lettisch-chinesische Tänzerin, die in den 20er- und 30er-Jahren in Berlin wirkte. Eine Exotin – chinesische Gesichter waren damals nicht alltäglich. Barbakoff brach nicht nur mit der Körperästhetik, sondern auch mit den tänzerischen Stilen ihrer Zeit: Ihre Tänze nahmen unter anderem russische und asiatische Einflüsse auf, doch ihr Lieblingstanz blieb eine Eigenkreation auf chinesischer Basis: „Durch Gärten“ nannte sie ihn.
„Genau wie Tatjana Barbakoff, die nie in China war, nehme auch ich die Einflüsse meiner Abstammung auf“, sagt Chi. Als Tochter eines nigerianischen Vaters und einer deutschen Mutter wuchs sie im Schwarzwald auf – und war noch nie in Nigeria. „Der Tanz ist auch ein Mittel, sich vorzustellen, woher man kommt“, erklärt Chi. Wenn sie über Barbakoff spricht, klingt es ein wenig ehrfürchtig, als spreche sie über eine ehemals gute Freundin, zu der sie leider den Kontakt verloren hat. Barbakoff wurde als Jüdin im Jahr 1944 im Konzentrationslager Auschwitz ermordet.
Der 42-jährigen Chi geht es nicht nur um Kunst, sondern auch um Politik. „Ich begann mit dem Konzept, als in Deutschland gerade eine Debatte über Kriminalität von Migranten tobte“, erzählt Chi. Mittlerweile sieht sie sich auch selbst als Migrantin, „einfach weil man dazu gemacht wird“. Mit ihrer Arbeit will sie zeigen, dass Migranten eine Kultur bereichern – wie Barbakoff und Chi. Sie selbst stieß bei einer Ausstellung auf ein Bild der Künstlerin und war von ihrem chinesischen Kleid gefesselt. Chi, die unter anderem in Indonesien Tanz studierte, spürte Barbakoff nach und fand „erstaunlich viele Parallelen“. Die binationale Abstammung, das Leben in Berlin und Düsseldorf, der Einfluss asiatischer Elemente in ihren Tänzen und deren Verschmelzung mit anderen Kunstformen wie den bildenden Künsten und Musik.
Wenn Chi auf der Bühne steht, sehen ihre Bewegungen manchmal eher nach Kampf als nach Tanz aus. Tai-Chi-Elemente wechseln sich ab mit Tritten und Sprüngen, dazwischen eine Ballettdrehung. Die Kämpfe in Chis Stück spiegeln die Kämpfe in Barbakoffs Leben wider – Umzüge, Deportationen, Exil, Flucht, Tod. Chi gibt ihr auf der Bühne ein Leben nach dem Tod: In der abschließenden Szene richtet sie sich wieder auf, begleitet von zerbrechlicher Flötenmusik. „Es soll ein Stück Hoffnung sein, dass es weitergeht.“
Premiere am Freitag, 20.30 Uhr im Haus der Demokratie und Menschenrechte, Greifswalder Straße 4
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