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Freispruch für Mord aus Verzweiflung

Freispruch für eine Mutter, die ihren 26-jährigen behinderten Sohn tötet – weil sie depressiv ist. Viele Zuschauer vor Gericht sympathisieren mit der Frau, die die Sparwut der Krankenkassen in ihrem Abschiedsbrief angeprangert hat

Ein Aufatmen geht durch die Zuschauerreihen, als die Vorsitzende Richterin das Urteil über die Mutter verkündet, die ihren behinderten Sohn tötete. „Totschlag“ ist die juristische Bezeichnung für das, was die 61-Jährige tat. Doch Eveline G. litt an einer depressiven Störung und kann darum nicht bestraft werden. Am Montag wurde sie vom Landgericht freigesprochen.

Ein Jahr ist es her, da nahm G. alle Tabletten, die sie in ihrer Wohnung finden konnte. Die Hälfte schluckte sie selbst, die andere verabreichte sie ihrem Sohn. Anschließend schnitt sie ihm und sich die Pulsadern auf. Zwei Tage später klingelten die Nachbarn an der Tür und stießen auf eine verstörte Frau, die immer wieder rief: „Marco ist tot.“

26 Jahre lang hatte sie ihren Sohn aufopferungsvoll gepflegt – das Wunschkind, das durch ärztliche Fehler bei der Geburt nicht laufen, nicht sprechen und auch nicht seine Hände koordinieren konnte. Für Marcos Pflege gab die Angeklagte ihren Beruf auf. Jahrzehntelang konnte sie jede zweite Nacht nicht schlafen, weil sie den an chronischer Bronchitis leidenden Jungen pflegte. Auch bei Krankenhausaufenthalten wich sie nicht von seiner Seite. All dies tat sie, weil sie mit der professionellen Pflege schlechte Erfahrungen gemacht hatte. An der Belastung scheiterte ihre Ehe. Als sie geschieden wurde, hatte die Angeklagte zwei Selbstmordversuche hinter sich. Ihre Depression blieb den Ärzten aber verborgen.

Im Sommer 2005 lernte G. ihren heutigen Verlobten kennen. Michael S. liebte sie und ihren Sohn. „Marco steckte an, er konnte süchtig machen“, sagt der schnauzbärtige Mann vor Gericht und weint. Im Sommer kriselte die Beziehung. „Wollten Sie sich trennen?“, fragt die Richterin den Zeugen. „Nein, Abstand haben“, sagt S. Doch manchmal ist ein „Abstand“ der Anfang vom Ende. Eveline G., sagt ihr Verlobter, „war sich sicher, das sei eine Trennung für immer“.

Höhepunkt in Marcos Leben waren die Ausflüge mit seinem Einzelfallhelfer. Mit dessen Hilfe konnte der Behinderte die Welt erkunden. „Ich war die einzige Tür nach draußen“, sagt der Betreuer vor Gericht. „Das hat er unwahrscheinlich genossen.“ Doch die Einzelfallhilfe für Marco wurde drastisch gekürzt. Man riet G., ihren Sohn in ein Heim zu geben. Das lehnte sie ab.

So fürchtete sie im Herbst 2007 den Verlust der beiden Menschen, die sie am meisten liebte – ihren Freund und ihren Sohn. Dies verstärkte ihre Depressionen und führte zu der tragischen Tat. An jenem Oktobertag hatte sie auf die Einnahme ihrer Antidepressiva verzichtet, weil sie Marco mit dem Auto abholen wollte. Zu Hause entschloss sie sich zum Selbstmord. Ihren Sohn mochte sie nicht allein zurücklassen. Dabei hatte Marco zuletzt erhebliche Fortschritte gemacht, sei zunehmend selbständiger geworden, sagt der Einzelfallhelfer vor Gericht. „Marco wollte unbedingt leben. Er war so lebensfroh.“

In ihrem Abschiedsbrief schrieb G.: „Marco muss ich leider mitnehmen, denn in dieser Welt, wo es nur um die Kosten geht, kann man nur schlecht leben.“ Während ihres Prozesses erntete sie viel Mitgefühl und Bewunderung. Doch im Gerichtssaal ertönen auch kritische Stimmen über die „zwanghafte Beziehung“ der beiden. Der Einzelfallhelfer sagt: „Sie konnte Marco nicht loslassen. Ich wusste, das geht irgendwann schief.“

UTA EISENHARDT

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