: Die Erinnerungsgemeinschaft
Der deutsch-kanadische Soziologe und Publizist Y. Michal Bodemann zieht in seinem neuen Buch eine skeptische Bilanz der „Jüdischen Existenz in Deutschland“. Bisweilen scharf kritisiert er darin sowohl seine deutschen Fachkollegen als auch eine Politik, die auf ethnische Homogenität zielt
von MICHA BRUMLIK
Besuche israelischer Präsidenten in der Bundesrepublik gelten der hier lebenden jüdischen Gemeinschaft stets als eine Zeitansage besonderer Art. So forderte noch vor wenigen Jahren der vorletzte Präsident, Ezer Weizmann, in einer Rede vor dem Bundestag, die hier lebenden Juden sollten Deutschland verlassen. Seitdem hat sich das Blatt gewendet. Mehr als fünfzig Jahre nach Gründung der Bundesrepublik und des Staates Israel erkannte das israelische Judentum die Legitimität hiesiger jüdischer Existenz an: Israels Präsident Mosche Katzav weihte gemeinsam mit Bundespräsident Johannes Rau in Wuppertal eine Synagoge ein. Auf diese Weise hat sich der zionistische Staat auch mit diesem letzten Rest einer zunächst inakzeptablen Diaspora ausgesöhnt.
Der Essayband des deutsch-kanadischen, in Berlin und Toronto lehrenden Soziologen Y. Michal Bodemann erscheint also zur rechten Zeit. Seine Essays sind geprägt von einer Perspektive, die sich deutlich unterscheidet von der Binnensicht der hiesigen Akteure, seien sie nun Juden oder Nichtjuden. Getragen vom normativen Ideal des kanadischen Multikulturalismus und einem durchaus skeptischen Blick auf die von ihm für heuchlerisch gehaltenen deutsch-jüdischen Versöhnungsrituale, entfaltet er sein Thema in unterschiedlichen Facetten.
Blick des Soziologen
Einem kritischen Blick auf die Ungleichbehandlung von Juden und anderen ethnischen Minderheiten in Deutschland folgt eine eher argwöhnische Analyse des seit den Sechzigerjahren aufkommenden Erinnerungsbooms. (Schon vor Jahren hat er einen kritischen Band zum „Gedächtnistheater“ vorgelegt.) Seine Nachträge zum Walser-Bubis-Streit sind dabei ebenso lesenswert wie seine Gedanken darüber, wie die Debatte um die Amerikanisierung des Holocaust hierzulande aufgegriffen wurde. Seine Anmerkungen zur jüdischen Ikonografie in Deutschland zwischen Scheinautonomie und Authentizität, seine Noten zur jüdischen Renaissance in Berlin sowie zu einem Judentum in der globalisierten Welt regen allemal zum Nachdenken an.
Bodemann ist vor allem Soziologe. Daher kritisiert er in seinen Untersuchungen auch, dass sich die deutsche Nachkriegssoziologie mit Nationalsozialismus und Massenvernichtung zu wenig oder gar nicht befasst hat. Diese Passagen gehören zu den gewinnbringendsten Teilen dieses Bandes – aber man hätte sich mehr Differenzierung gewünscht. Denn so sinnvoll und aufschlussreich es ist, dieses Problem etwa anhand der frühen Jahrgänge der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie zu untersuchen, so sehr greift das allfällige Verdikt über die deutsche Nachkriegssoziologie zu kurz. Dabei bekennt der Autor zwar, dass er auf die Arbeiten von Adorno und Horkheimer nicht eingehen konnte. Er unterschlägt allerdings die deutsche Nachkriegssoziologie dort, wo sie sich als politische Soziologie verstanden hat, etwa in den Arbeiten von Karl Dietrich Bracher oder M. Rainer Lepsius, den er scharf angreift. Sie jedenfalls haben sich sehr wohl mit dem Nationalsozialismus auseinander gesetzt – ganz zu schweigen von den gewichtigen Arbeiten um die Zeitschrift Das Argument, etwa von Margarita von Brentano und Wolfgang Fritz Haug. Dass sich die deutsche Soziologie spätestens ab den Siebzigerjahren dem Thema gestellt hat und etwa in der Zeitschrift für Soziologie viele einschlägige Beiträge erschienen sind, hätte durchaus erwähnt werden dürfen.
Entrüsteter Moralist
Bodemann argumentiert zwar als Soziologe, doch sein Impuls ist durchgängig der des Moralisten. Er stellt sich die Frage nach den sozialen Bedingungen eines angemessenen Erinnerns, indem er die mangelnde Aufrichtigkeit der Gesellschaft anklagt. Wie Henryk M. Broder und andere Intellektuelle derzeit neigt auch Bodemann dazu, die so genannte „westliche“ Kultur des Erinnerns (vor allem die in den USA) über die in Deutschland zu stellen.
Bei alledem wird deutlich, dass die Mittel einer moralisch entrüsteten Beobachtung in die Irre führen. In seiner stark polemisch getönten Einleitung schreckt Bodemann etwa nicht davor zurück, linksliberale Juristen wie Ulrich K. Preuß angesichts der Einwanderungsdebatte mit Werner Sombart, dem völkischen und antisemitischen Soziologen der Zwanzigerjahre, in eine Reihe zu stellen. Zudem will er gleich zu Beginn nachweisen, dass die relativ bessere Behandlung der Juden im Nachkriegsdeutschland einem Mangel an universalistischer Moral im deutschen Establishment entspricht, das schließlich – im Unterschied etwa zu Kanada – seinen Immigranten einen zu starken Assimilationsdruck auferlege. Mit Blick auf die Einweihung der Wuppertaler Synagoge durch den israelischen Staatspräsidenten heißt das: Ohne das in Nordamerika in der Tat unverständliche Staatskirchenrecht zu berücksichtigen, ist das Phänomen der jüdischen Gemeinschaft im Nachkriegsdeutschland nicht zu verstehen. Die Juden erhalten im Unterschied zu anderen Minderheiten nur deshalb staatliche Zuschüsse, weil sie eben nach deutschem Recht eine Konfession und keine Ethnie darstellen.
Problem mit dem Ethnos
Bodemann versteht sich politisch als Befürworter einer multiethnischen Gesellschaft und führt als Kronzeugen für diese Haltung die kanadischen Philosophen Charles Taylor und Will Kymlicka an. Ein Argument dafür, was an der „Anerkennung des Ethnos“ als politische Größe so bedeutsam sein soll, bleibt aus.
Das verwundert umso mehr, als Bodemann sich widerwillig zu postmodernen Gedankengängen hingezogen fühlt, die der Idee eines ethnisch homogenen Nationalstaates entgegenstehen. Hier hätte er freilich lernen können, dass unter postmodernen und postkolonialen Bedingungen eine ungebrochene Rede vom „Ethnos“ nicht mehr möglich ist, dass der Gedanke eines homogenen Ethnos nur noch dekonstruiert werden kann und dass das wirkliche Selbstverständnis von Einzelnen und Gruppen in der Einwanderungsgesellschaft bestenfalls zu hybriden Patchworkidentitäten führt.
Die Antwort auf die Frage, warum derlei auch noch verfassungsrechtlichen Rang erhalten sollte, bleibt Bodemann schuldig. Bisweilen auch – vor allem in den Fußnoten – wagt Bodemann sich auf äußerst glitschiges Terrain. So fragt er zum Beispiel, ob eine Debatte über die Zahl der von den Nationalsozialisten ermordeten Sinti zulässig sei, oder stellt fest, dass Historiker noch heute kaum wagen könnten, über die Zahl der ermordeten Juden zu debattieren. Tatsächlich wurde und wird diese Debatte geführt – und das keineswegs nur von nazistischen Revisionisten: Freilich haben all diese Debatten bezüglich der ermordeten Juden gezeigt, dass die vorgelegten Zahlen zutreffen.
Aber all das sind Einwände gegen ein Buch, dessen die Republik und ihre Sozialwissenschaftler dringend bedarf: Es handelt sich um Interventionen eines ebenso engagierten wie distanzierten Zeitgenossen, dessen scharfsinnige Notizen das Juste milieu unserer etablierten Erinnerungskultur heilsam aufstören können.
Y. Michal Bodemann: „In den Wogen der Erinnerung. Jüdische Existenz in Deutschland“, 224 Seiten, dtv, München 2002, 12,50 €
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