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Der unbekannten Koryphäe

Vor 250 Jahren erblickte Heinrich Wilhelm Matthäus Olbers das Licht der Welt. Der Hobby-Wissenschaftler stand an der Spitze des Aufstiegs einer kulturellen Wüstenlandschaft. Versuch einer Huldigung des wichtigsten Bremers aller Zeiten

AUS BREMEN ASCAN DIEFFENBACH

Plötzlich in den Wallanlagen: Ein Radfahrer rast vorbei. Er guckt sich kurz um. Nicht aus Angst überholt zu werden. Er blickt zu Wilhelm Olbers auf – ganz bestimmt. Einsam steht der vor Parkbänken, die dazu einladen, ihn zu beobachten. Das passiert selten. Ich kann das beurteilen. Schließlich sitze ich hier schon seit zwei Stunden. Hat denn sonst niemand Zeit für ihn?

Er könnte auch mal wieder gewaschen werden. Smog hat sich auf seinen Schultern breitgemacht, der Grünspan frisst am Sockel. Kein Wunder, dass er so unzufrieden aussieht. Dennoch hätte Olbers derzeit allen Grund zu feiern: Vor 250 Jahren wurde er geboren.

Grund genug, mir den Auftrag zu erteilen, ihn in der Zeitung zu würdigen. Viele Zeilen, die Zeit drängt. Ausgerechnet mir, dem Naturwissenschaften schon in der Schule fast das Genick gebrochen haben. Vielleicht wäre es leichter für jemanden, der auf einer Schule war, die Olbers’ Namen trägt. Die gibt es nämlich – und das spricht doch schon mal für ihn.

An der Wilhelm-Olbers-Schule in Bremen-Hemelingen kann man aber nicht feiern – Herbstferien. „Intern wird er natürlich gewürdigt“, erklärt Petra Perplies-Voet, Direktorin des Schulzentrums. Beim nächsten Tag der offenen Tür gibt es dann Olbers-Kekse. Gebacken nach einem Rezept, das er selber nutzte.

Für Bürgermeister Jens Böhrnsen ist es einfacher, Olbers zu würdigen: „Wilhelm Olbers und den Astronomen seiner Zeit ist es zu verdanken, dass Bremen ein Zentrum der Astronomie wurde“, schreibt er in einem Grußwort. Deshalb das Fernrohr an der Statue. So wurde er also wichtigster Bremer aller Zeiten.

Eigentlich war Olbers Arzt, richtete sich aber 1799 eine kleine Sternwarte ein. Hier entdeckte er den später Ceres genannten Kleinplaneten wieder und den Planeten Pallas neu. Dann fand er 1807 den Asteroiden Vesta und später noch sechs Kometen. Einer von denen heißt sogar „Olbersscher Komet“ und kehrt wohl im Jahr 2024 wieder. „Die Entdeckungen waren unheimlich wichtig für die Wissenschaft. Bis ins tiefste Russland war man beeindruckt“, sagt Hans-Joachim Leue von der Astronomischen Vereinigung Lilienthal. Und was kann man damit anfangen? Die Raumsonde Dawn wurde 2007 auf den Weg zu Vesta und Ceres geschickt. Die Wissenschaft hofft unter anderem, dass ein Vergleich von Vesta zu den kohlenstoffhaltigen Asteroiden im äußeren Asteroidengürtel mit Ceres möglich sein wird. Aha.

Schon 1797 hatte Olbers die Welt durch seine wichtige „Abhandlung über die leichteste und bequemste Weise die Bahn eines Kometen zu berechnen“ bereichert. Darüber hinaus galt das von ihm formulierte Olbers’sche Paradoxon lange als feste Größe. Aber es kennt ihn eben kaum noch jemand, obwohl er weltweit bekannt ist. Ein weiteres, ganz spezielles Olbers-Paradoxon.

In dem eigentlichen Olbers’schen Paradoxon hat der Freizeit-Wissenschaftler die Frage aufgeworfen, warum der Nachthimmel dunkel ist. Ausgehend von der Annahme, dass das Universum unendlich ist und demnach in jeder Richtung irgendwo ein Stern leuchten müsste, müsste auch der Nachthimmel strahlend hell sein. „Gelöst wurde dieser Sachverhalt erst in den 1980er Jahren“, sagt Astronom Leue. Bei der Erklärung spielt die Rotverschiebung und die Krümmung des Universums eine Rolle. Und ich weiß wieder, warum ich die Finger von Naturwissenschaften gelassen habe.

Dann schon lieber Geschichte: Im ausgehenden 18. Jahrhundert erwachte die Handels- und Kaufmannsstadt Bremen aus einem kulturellen Tiefschlaf. „Es ist eine Zeit, in der sich etwas in der Gesellschaft regte, in der Bremen den Kopf hob“, erklärt Konrad Elmshäuser, Leiter des Staatsarchivs und Autor der „Geschichte Bremens“. Die Stadt war so verpennt, dass sich Kultur und Wissenschaft nur in privaten Zirkeln entwickeln konnten. „Das alles gibt den Eindruck einer Spätzünderentwicklung“, sagt Elmshäuser: „Kein Wunder, dass Olbers in dem Umfeld zu einer wichtigen Identifikationsfigur wurde.“

Identifikationsfigur? Olbers? Lange her! „War das nicht ein Bürgermeister?“, fragt Ludwig Busch in der Sandstraße. Dort stand das Olbers’sche Wohnhaus samt Sternwarte. Das Haus wurde 1906 abgerissen, sein Bewohner starb 1840 und beide verschwanden aus dem Gedächtnis. Eine unauffällige Steinplatte in einem noch unauffälligerem Wohnhaus erinnert heute an den Leuchtturm der bremischen Wissenschaftsgeschichte. „Zumindest die Zuordnung zur Astronomie hätte ich wissen müssen“, ärgert sich Busch. Auch Werner Hopp liegt es auf der Zunge, aber er kommt nicht drauf. Andere sagen: „Nie gehört“ oder „Sagt mir nichts.“

„Vielleicht liegt es daran, dass Naturwissenschaftler der Zeit nicht so bekannt sind wie Gesellschaftswissenschaftler“, spekuliert Historiker Elmshäuser. Außerdem ist es doch auch schwierig, jemanden zu verehren, dessen Entdeckungen erst erklärt werden müssen, bevor man sie versteht. „In den Schulen der DDR wurde sehr viel Wert auf Astronomie gelegt“, erinnert sich die Passantin Ursula Wieschnewski, „da war die DDR vorbildlich.“ Auch Schulleiterin Perplies-Voet sagt: „Leider wurde Astronomie in den ostdeutschen Ländern als Pflichtfach abgeschafft.“ So toll war es aber in der DDR-Schule aber auch nicht, denn Ursual Wieschnewski kennt Olbers nicht – trotz Astro-Unterricht.

Dabei war Olbers sogar ein großer Networker. Er entdeckte Bessel, vermittelte ihn, bevor er Professor in Königsberg wurde, nach Lilienthal zu Schröter. Zu den Star-Astronomen gesellte sich auch Gauss aus Göttingen. In der neu etablierten Wissensachse Bremen–Königsberg–Göttingen kommunizierte Olbers die Anfänge moderner Kometenastronomie, die er entscheidend mitprägte. Seine Arbeit war fast 150 Jahre lang Standardwerk für die Bestimmung von Kometenbahnen. Die heutige Wissenschaft misst Kometen sogar noch immer große Bedeutung bei. Man verspricht sich dadurch tiefgreifende Erkenntnisse über die Entstehungsgeschichte der Welt. Woher ich das weiß? Eine Broschüre zur Olbers-Ausstellung hat es mir verraten. Die wurde schon vor sechs Jahren in Braunschweig gezeigt. In Braunschweig! Idol-Raub!

Zum Geburtstag startet jetzt aber auch Bremen durch: Ein „Astro-Walk“ als Stadtführung auf den Spuren europäischer Astronomen, Vorträge oder Ausstellungen sollen Wilhelm Olbers aus der Versenkung hervorholen. Mir reicht das nicht. Ich habe die unbekannte Koryphäe so lieb gewonnen, dass ich zu seinem Geburtstag eine Garten-Party veranstalte und eine Batterie von kleinen, schönen Fluglaternen aufsteigen lasse. Die Dinger muss man anmelden – bei der Deutschen Flugsicherung. Diese „nehmigt derzeit keine Aufstiege so genannter Fluglaternen innerhalb des kontrollierten Luftraumes und darunter fällt die Kontrollzone Bremen“, heißt es im Antwortschreiben, „eine unerlaubte Nutzung des oben beschriebenen Luftraumes wird verfolgt und als Verstoß geahndet.“ Mir egal: Für Wilhelm bring’ ich den Himmel zum Leuchten.

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