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Shopping-Koloss ohne Skalp

In Hannover eröffnet ein weiterer Einkaufspalast des Hamburger Projektentwicklers ECE. Die Architektur ist für Experten eine Bestätigung des graumäusigen Images der Stadt. Der Einzelhandel fürchtet Aderlässe. Dennoch gab es keinen Protest

VON KAI SCHÖNEBERG

Sie sprechen von „Un-Orten“, „blockierten Übergängen“ und beklagen die „Festivalisierung der Innenstadt“: Die Moderatoren des „Hannover City 2020“ genannten Bürgerforums rund um das Image der Landeshauptstadt haben es dann doch sehr freundlich formuliert: Es gibt jede Menge zu tun, damit das Ansehen der Stadt an Leine und Ihme aus der Schmuddelkind-Liga aufsteigt.

Natürlich ist es ungerecht, Hannover wie zu Expo-Zeiten als „Harnover“ zu veräppeln, weil es damals in der zentralen Shopping-Passage, bisweilen, nun ja, müffelte. Heute heißt die niegelnagelneue Passarelle Niki-de-Saint-Phalle-Promenade, in Hannover stehen bauliche Schmuckkästchen wie Gehry-Tower oder Nord/LB. Aber ja, die Niedersachsen-Metropole hat auch im Krieg und später unter Rudolf Hillebrecht gelitten. Der Stadtbaurat ließ Historisches schleifen, um aus Hannover eine „autogerechte Stadt“ zu formen. Tangenten, Cityring, Brachen und Betonwüsten prägen das Image, das Hannover bis heute anhängt.

Für einige setzt sich der Fluch städtischer Graumäusigkeit jetzt fort. „Sie hat keinen Ramschcharakter“, sagt der Bauhistoriker Sid Auffahrt über die neue Ernst-August-Galerie, die in bester Innenstadtlage öffnet. Solide findet Auffahrt die Architektur, aber leider „so was von belanglos“. Die rechteckige, durch Fenster unterbrochene Sandsteinfront Richtung Bahnhof schimpft er „eine Art Billy-Regal“. Dass das Gebäude kein Schrägdach wie die in den 50ern an derselben Stelle erbaute Hauptpost hat, sieht für ihn aus, „als ob man das skalpiert hätte“. Die vom Architekturbüro Venneberg + Zech gestaltete Hülle der Mall ist für Auffahrt „austauschbare Kaufhausarchitektur“. Dass die Stadt dafür einen Architekturwettbewerb veranstaltete, wundert viele Experten. Ein Einkaufszentrum, eine verschenkte Chance.

Es ist die 99. Shopping Mall des Hamburger Projektentwicklers ECE. Ein Riesenkasten, kaum anders als der 100., der im November in Prag eröffnet: 150 Shops und Lokale sind hier auf einer Verkaufsfläche von 30.000 Quadratmetern versammelt, drei Etagen, Food-Courts genannte Fresstempel, Brunnen und Spielecken, Nussbaum-Geländer und 1.200 Parkplätze. Kosten: 230 Millionen Euro, 1.000 Arbeitsplätze sollen entstehen. Immerhin, 52 Kaufleute aus der Region eröffnen hier Filialen. Statt McDonald’s und Nordsee warten also Fisch-Müller und Os Amigos auf die Kunden. Aber die erste Besichtigung zeigt: Das Gros der Mieter sind Filialisten, Nummer 1 ist mit 2.000 Quadratmetern H & M, der dritte Laden der Schweden in Hannovers City. Wenig Neues also.

Das Besondere am hannoverschen ECE: Es gibt keinen Protest. Als ECE vor Jahren in Braunschweig ein ähnlich großes Zentrum, teilweise sogar mit der Fassade des alten Welfenschlosses bauen wollte, grollte der Einzelhandel, bewegte Braunschweiger strengten einen Bürgerentscheid an. Vergeblich: Seit März 2007 locken die Schloss-Arkaden Käufer. In Hameln, wo die so genannte Stadtgalerie im März öffnete, beklagt der Einzelhandel bereits die ersten Leerstände in der City.

Nicht so im rot-grün regierten Hannover. „Es gab vor der Entscheidung im Stadtrat keine Kauffrau, keinen Kaufmann, der das ECE-Zentrum problematisiert hätte“, sagt der Grünen-Bauexperte, Michael Dette. Ihn plagt zwar auch Unwohlsein bezüglich uniformer Architektur und Kollateralschaden beim städtischen Einzelhandel. Aber, so Dette: „Wir hätten uns da verkämpft“. Also drückten die Grünen Öko-Standards im ECE durch: Eine Solaranlage mit 2.500 Kilowatt oder Rolltreppen, die stoppen, wenn keiner fährt.

Tatsächlich empfindet ein Teil der Konkurrenz in Hannover das ECE als Herausforderung: Kaufhäuser hübschten sich auf, Neubauten entstehen. Zum Beispiel direkt gegenüber dem ECE im so genannten Rosenquartier oder am Kröpke, fußgängerzonentechnisch die Hauptschlagader der Stadt. Die Einzelhandelsfläche in Hannover erhöht sich ab heute auf einen Schlag um über zehn Prozent. Die Center-Manager wollen Kunden aus Hildesheim, Bielefeld und sogar aus Hamburg ziehen. „Da, wo sich Türen öffnen, werden anderswo welche geschlossen werden“, prognostiziert hingegen nüchtern Ullrich Thiemann vom niedersächsischen Einzelhandelsverband. Auch Dette glaubt, dass es schwer wird für vom neuen City-Zentrum entferntere Lagen. Wie für Malls auf der grünen Wiese.

Als „Gewinn für Hannover“ pries Bürgermeisterin Hilde Moenning (CDU) am Dienstag den Shopping-Koloss – trotz des zunächst erwarteten Verkehrs-Chaos. Außerdem sieht sie Gefahren für die Händler in den Stadtteilen. Die Eröffnung eines weiteren Einkaufszentrums in Linden mit weiteren 35.000 Quadratmetern Verkaufsfläche wurde vor kurzem erneut verschoben.

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