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Kino nur für die Ohren

Im fünften Jahr präsentiert die Berlinale einen Film mit Audiodeskription. Zwei Radiomoderatoren machen den deutschen Wettbewerbsbeitrag „Lichter“ für Blinde und Sehbehinderte erlebbar

von CHRISTOPH TITZ

Der Blonde stürmt in das Café, schlägt die Tür zu und schließt sie ab. Sein Verfolger tritt die Scheibe ein, gelangt durch das Gitter dahinter nicht an den Blonden heran und lässt von ihm ab. In dem Manuskript, das Kerstin Tomiak vor sich hält, steht zu dieser rasanten Szene nur: „Der Blonde läuft weg.“

Länger darf die Beschreibung nicht sein, denn gleich fällt Olaf Oelstrom mit seinem Text ein, den er aus dem deutschen Untertitel abliest. Den Rest der Handlung müssen Geräusche erklären. Das verbale Pingpong-Spiel ist die Generalprobe für eine live dargebotene Audiodeskription, einem Verfahren, das Filme für Blinde erlebbar macht. Was die beiden Moderatoren des Deutschlandradios vor sich auf dem Fernsehschirm sehen, ist eine Weltpremiere vor der eigentlichen ersten Aufführung des Films „Lichter“, eines der deutschen Wettbewerbsbeiträge auf der diesjährigen Berlinale. Dieses Privileg können die beiden nicht genießen, sie konzentrieren sich voll auf die Texte.

Kerstin Tomiak ist es gewohnt, wie ein Radiomensch zu sprechen, sie moduliert stark, ihre Stimme klingt lebendig. In der Vertonung einer Filmhandlung für Blinde und Sehbehinderte ist genau das schlecht, weil es die Kinobesucher dabei stört, Bilder im Kopf entstehen zu lassen. Und sie spricht zu schnell. „Sonja blickt sich in einem Café um“, liest Tomiak, aber Sonja ist noch nicht zu sehen. Dann kollidiert ihre Stimme mit der ihres Radiokollegen Oelstrom.

Seine Rolle ist nicht minder schwer. Er muss so viel wie möglich von der Orginalstimme, die über die Kinolautsprecher zu hören sein wird, durchlassen, damit die Schauspieler für die Blinden unterscheidbar werden. Gleichzeitig soll er die Untertitel schnell zu Ende bringen, damit Pausen für Tomiaks Beschreibungen entstehen. Beide arbeiten professionell. Passiert ein Fehler, wird das Band zurückgespult, sie machen sich Notizen und arbeiten sich weiter in Minutenschritten durch den Film.

Das Manuskript stammt von drei Autoren der gemeinnützigen Gesellschaft Deutsche Hörfilm (GDH). So genannte Filmbeschreiber, von denen einer selbst blind ist, haben dort den 100-Minuten-Film binnen einer Woche in kurze Sätze zerlegt. Das Manuskript schreibt Tomiak rund 250 Einsätze in den Textpausen des Films vor.

Die Zusammenarbeit mit der Berlinale hat für die Deutsche Hörfilm mittlerweile Tradition. Vor fünf Jahren begann die Kooperation mit Hilfe von Wim Wenders, der sich bei der Festspielleitung für eine Audiodeskription seines Musikfilms „Buena Vista Social Club“ einsetzte. Außerhalb der Berlinale ist Kino für Blinde eine Ausnahmeerscheinung. „Das Angebot ist sehr schmal“, sagt Martina Wiemers, Leiterin der GDH. Trotzdem sei das Festival wegen der Atmosphäre und der Außenwirkung sehr wichtig für die Blinden ebenso wie für die Festivalgäste. Neben der Berlinale gibt es Blindenkino bisher nur auf dem Gaga-Filmfest im Eiszeit in Kreuzberg, das wieder im Mai stattfinden wird.

Das Stammgeschäft der Deutsche Hörfilm sind eigentlich Fernsehproduktionen. Da textet und produziert Wiemers Firma für die öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten, aber auch für Privatsender wie Sat.1, eigene Audiodeskriptionsabteilungen leisten sich in Deutschland nur der Bayerische Rundfunk und der Kulturkanal Arte. „Besonders schwierig sind Slapstick-Komödien“, da müsse man sehr viel Handlung beschreiben, sagt Wiemers. Abenteuerfilme mit großzügigen Landschaftsaufnahmen seien da einfacher, erklärt er die Arbeit der Filmbeschreiber.

Die 100 Karten, die die Deutsche Hörfilm zusammen mit Infrarot-Kopfhörern an blinde Berlinale-Besucher ausgibt, sind längst vergriffen, frei verkäufliche gibt es allerdings noch.

Heute, 18.30 Uhr, Royal-Palast: „Lichter“, Deutschland 2002, Regie: Hans-Christian Schmid

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