: „Negativkoalition zur Abwehr des Krieges“
Der Soziologe Dieter Rucht über den Trend hin zur Präventivdemonstration: „Das vorherrschende Gefühl war nach meiner Beobachtung: Wir können nicht Bush beeindrucken, aber wir können dieser Regierung in diesem Fall den Rücken stärken, damit sie ihre Linie hält“
taz: Auf der Berliner Kundgebung am Sonntag dominierte Individualprotest. Gewerkschaften und Parteien gingen in der Masse unter.
Dieter Rucht: Es war eine tief greifende Mobilisierung des Normalbürgers. Das lag an der langen kontroversen Diskussion über diesen Krieg. Dazu kam die Rhetorik der US-Führung: Sie brachte eine Missachtung abweichender Meinungen zum Ausdruck. Viele Bürger sind darüber empört und sagen: So kann man mit uns nicht umspringen.
Es war eine Demo für die Regierung, nicht gegen die Regierung, das ist äußerst selten.
Man nimmt aber die Position der Regierung als gefährdet wahr: Die EU ist gespalten, die Regierung könnte wackeln. Das vorherrschende Gefühl war nach meiner Beobachtung: Wir können nicht Bush beeindrucken, aber wir können dieser Regierung in diesem Fall den Rücken stärken, damit sie ihre Linie hält. Im internationalen Vergleich sieht man dennoch, dass die Demonstrationen dort am größten ausfielen, wo die Regierungen auf Kriegskurs waren, in Großbritannien, Spanien und Italien.
Was bedeutet denn diese Zahl für die Friedensbewegung?
Man kann diese Demonstranten nicht einfach der Friedensbewegung zuschlagen. Eine Bewegung muss ein Netzwerk bilden, das sich um sozialen Wandel bemüht. Es muss eine zumindest vage kollektive Identität vorhanden sein. Es gibt kein Netzwerk, das die meisten der Demonstranten einbindet, es gibt kein Bemühen um sozialen Wandel – viele dieser Menschen haben zum ersten Mal protestiert. Es war eine Negativkoalition zur Abwehr eines Krieges. Natürlich stehen dahinter auch einige universale Werte, aber nicht die Idee einer Alternative zur bestehenden Gesellschaft. Die Demonstration hatte eher den Charakter einer großen Kampagne, an die sich viele Leute angelagert haben.
Hatte der Zulauf auch damit zu tun, dass der Gedanke der Krisenprävention in der internationalen Politik populärer wird?
Eine Art Kanonenbootpolitik im nationalen Interesse hat sich tatsächlichziemlich verflüchtigt in der internationalen Politik. Die Welt wird als zu verflochten wahrgenommen, als dass so eine Politik noch Sinn machte. Aber genau diese Politik des nationalen Interesses verfolgt die Regierung Bush. Diese Sicht teilen die meisten Länder nicht mehr. Tatsächlich reagiert der Protest auf den Präventionsgedanken: Zum ersten Mal wird schon vor einem Krieg in großem Umfang demonstriert. Im letzten Golfkrieg startete der Massenprotest erst nach den ersten Bombardements. Das hängt damit zusammen, dass es schon ein Präventionsregime gibt: die Inspektoren. Deren Regime zu stärken scheint eine realistische Alternative zu sein.
Wie viel hat der Protest damit zu tun, dass ausgerechnet die USA diesen Krieg führen wollen?
Natürlich wäre der Protest geringer, wenn eine größere Staatengemeinschaft diesen Krieg wollte. So aber ist er der Punkt auf dem i der Außenpolitik Bushs. Die US-Regierung nimmt an internationalen Vereinbarungen und Verträgen nur noch teil, wenn es ihr nützt, und torpediert alles, was nicht in ihrem Interesse liegt. Diejenigen, die das jetzt erst in dieser Serie aufgezählt bekommen, weil es vorher an ihnen vorbeirauschte, protestieren nun gegen diese ganze Linie.
Die etablierte Presse hat Schröder in letzter Zeit stark kritisiert, das hat wohl kaum mobilisiert.
Nur: die Kritik an mangelnder Raffinesse in der internationalen Diplomatie ist den meisten Leuten herzlich egal. Sie unterstützen Schröder in der Sache.
Wird der Protest Schröder innenpolitisch nützen?
Er würde vielleicht nützen, wenn Wahlen bevorstünden. Aber die Bürger müssen im Moment nicht eindeutig entscheiden. Sie können sich also die gespaltene Haltung leisten, dass sie Schröder außenpolitisch unterstützen und ihn innenpolitisch kritisieren.
INTERVIEW: HEIDE OESTREICH
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen