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Die Mutter aller Medien

Der Medientheoretiker Friedrich Kittler hat den Kulturwandel als Folge von Militärtechnik untersucht. Zum sechzigsten Geburtstag haben ihm Kollegen und Schüler die Festschrift „FAKtisch“ gewidmet

von SEBASTIAN HANDKE

Eine Wissenschaft zu betreiben, die von technischen Schriften handelt, und die doch selbst nicht Technik wäre: ein mutiger Vorsatz, erst recht für einen Literaturwissenschaftler. Friedrich Kittler hat viel zu der Entwicklung einer solchen Disziplin beigetragen: mit einer eigenen Fortsetzung des nietzscheanischen Projektes, statt maskierender Begriffe (Idealität, Humanität, Wahrheit etc.) die historische Faktizität von Diskursen, Medien und Kriegen zu suchen.

„FAKtisch“ ist denn auch die Festschrift benannt, in die sich wissenschaftliche Prominenz, Weggefährten und einstige Schüler zu Ehren seines 60. Geburtstages im letzten Jahr eingetragen haben. Davon gibt es einige, denn Kittler versammelt in seinem mit einiger Hardware ausgestatteten Büro in der Berliner Sophienstraße eine Schar von Wegbegleitern um sich, die seine sehr spezielle Denkweise begierig aufsaugen, eine regelrechte Kittler-Schule, die sich einen Satz des „FAKtisch“-Herausgebers Bernhard Siegert an die Türschwelle heften könnte: „Die Antwort liegt klar auf der Hand, bedarf allerdings eines kurzen Rückgriffs auf zwei Weltkriege“. Denn der Krieg spielt als Inkubator moderner Medien eine herausragende Rolle.

In diesem Sammelband ist es Horst Bredekamp, der auf den Krieg zu sprechen kommt. Doch er tut dies keineswegs in Kittlers Manier, sondern als Kunstwissenschaftler. Das allgemeine Empfinden, wonach grundsätzliche Denkunterschiede zu den verschiedenen Bewertungen des Irakkrieges geführt haben, hat schon der politische Kolumnist der Washington Post Robert Kagan in seinem Buch „Macht und Ohnmacht. Amerika und Europa in der neuen Weltordnung“ unterfüttert. Kagan behauptet, dass sich Alteuropa auf Kant beziehe und die USA auf Hobbes, jenen Hobbes, der sagte, ohne Schwerter seien Verträge nichts als Worte, wenn es keine sichtbare Macht gibt, die Vertragspartner in Schach (awe) zu halten.

Den Kunstwissenschaftler Bredekamp interessiert besonders die politische Bildtheorie, die Hobbes in diesem Zusammenhang formulierte: demnach kämen irreversible Prozesse dann in Gang, wenn Bilder als marks (die Orientierung aus der Erinnerung bieten), durch das ihnen innewohnende Bedrohungspotenzial in signs verwandelt werden. Die brennenden Türme des WTC, so könnte man sagen: die Mutter aller signs. Der territorial ungebundene Feind, al-Qaida, musste danach an einen Ort gebunden werden, um im Krieg der signs mit einem medialen Gegenschlag antworten zu können. In der Logik der Bildpolitik konnte dieser Ort nur Bagdad sein.

Von dessen Eroberung musste anders berichtet werden als noch im ersten Irakkrieg: im Sinne der awe erzeugenden signs war die Allmacht des amerikanischen Militärs diesmal auch tatsächlich zu sehen. Den eingebetteten Journalisten haben wir es also zu verdanken, dass es nun, mit Schlingensief gesprochen, 1:1 steht zwischen den Videokünstlern. Andere Autoren docken deutlicher an Kittlers Denken an, und da dieses ein sehr umtriebiges ist, bieten sich dafür auch reichlich Möglichkeiten.

Der Japaner Yuji Nawata zeigt den Einfluss von Kittlers Theorie der Aufschreibesysteme auf die japanische Literaturwissenschaft. In seinem vergleichsweise bodenständigen Text beschreibt er, wie die einst so aufregende These Kittlers vom Wechsel des Aufschreibesystems durch Grammofon und Typewriter um 1900 auch in Japan belegbar ist – mit dem Unterschied, dass gewissermaßen das alte deutsche Paradigma zum neuen Paradigma Japans wird. Die alte japanische Kalligrafie, in der Buchstaben auch Bild sein sollten, wird abgelöst durch den Schriftsatz mit beweglichen Lettern. Ein neues, „abgehacktes“ Schriftempfinden und eine neue Prosa waren die Folge.

Das ist ein wegen seiner Abgelegenheit schöner Hinweis auf die bekannteste Behauptung Kittlers, wonach das Aufschreibesystem – also das Netzwerk von Techniken und Institutionen, die einer gegebenen Kultur die Adressierung, Speicherung und Verarbeitung relevanter Daten erlauben – jedem Sinn vorgängig ist und in diesen also auch eingeht; dass Kulturwandel also ein Effekt von Medientechnik ist. Thomas Macho, der neben Kittler und Bredekamp das akademische Triumvirat des Berliner Helmholtz-Zentrums für Kulturtechnik komplettiert, spitzt seinen Text derart auf diesen Gedanken zu, dass man dahinter ein freundliches Augenzwinkern für den Kollegen vernehmen möchte.

Sein kurzes Stück über die Schreibblockade nimmt seinen Ausgang nicht in der psychologischen Verfassung eines verzweifelten Autors, sondern im Material, das sich seinem Ausdruck entgegenstellt – der weißen Seite. Ob sich die Schreibhemmung auch des altertümlichen Schreibers bemächtigte, im Angesicht des unbehauenen Blockes? Oder ist die Schreibhemmung ein Nebeneffekt der ersten Medienrevolution? Zum Glück haben wir heute, einige Medienrevolutionen später, den Computer. Die Computer, so glaubt Macho, haben das Papier, auf dem einmal konzipiert wurde, längst verschluckt. Damit müsste es vorbei sein mit der vorgängigen Macht der weißen Seite. Dumm nur, dass das meist verbreitete Textverarbeitungsprogramm die weiße Seite nach wie vor in seinem Bild vom Fenster, das geöffnet wird, mitlaufen lässt: Eine Metapher, die Friedrich Kittler die Zornesröte ins Gesicht treibt.

Andere Texte befassen sich mit der Spannung zwischen Datenmenge und Datenhaltbarkeit in der Kulturgeschichte des Speichers (Jochen Höhnisch) oder mit Schillers Polizey und Hitchcocks „The Wrong Man“ als Indizien zweier unterschiedlicher Machtdispositive (Hans-Christian von Herrmann). Der Text des Herausgebers Bernhard Siegert ist vielleicht das interessanteste Stück: Er wagt eine Diskursanalyse des Stereotons im Film. Das geht natürlich nicht anders als über zwei Weltkriege, die Alphabetisierungskampagne des 18. Jahrhunderts und den Film „Die Fliege“, dessen Botschaft Siegert eindeutig zu bestimmen im Stande ist. Das Ergebnis: „Helène wird ein Opfer von Cinemascope bzw. MagOptical Stereophonic Sound, weil ihr Mann zum TV übergelaufen ist.“

Wer nach der Lektüre eines solchen Satzes Lust auf mehr hat, der ist in der Kittler-Schule bestens aufgehoben.

„FAKtisch“. Festschrift für Friedrich Kittler zum 60. Geburtstag. Hrsg. von Peter Berz, Annette Bitsch und Bernhard Siegert; Wilhelm Fink Verlag, München 2003, 373 Seiten, 50 Euro

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