: Stockholmsyndrom
Mit der Übertragung des Lindh-Prozesses sollte schwedische TV-Geschichte geschrieben werden – doch der Angeklagte legte prompt Einspruch ein
aus Stockholm REINHARD WOLFF
Ein historischer Moment. Mit dem Prozess in der Mordsache Außenministerin Anna Lindh sollte erstmals in Schweden ein Gerichtsverfahren live und in vollem Umfang in Radio und Fernsehen übertragen werden. Gleich zwei Kanäle, darunter das öffentlich-rechtliche SVT, hatten ihr übliches Programm dafür freigeräumt, und tatsächlich konnte man ab 8.50 Uhr morgens im ganzen Land mitverfolgen, was im Sicherheitssaal des Stockholmer Amtsgerichts passierte. Zwar nur den Ton, da ein Gesetz aus dem Jahr 1948 Bildaufnahmen verbietet. Aber immerhin.
Doch der historische Moment überlebte den Vormittag nicht. Der Angeklagte Mijailo Mijailovic ließ über seinen Verteidiger erfolgreich einen Abbruch der Übertragung beantragen. Er fühle sich so gehemmt, dass er vor Kameras und Mikrofonen keine Aussagen machen werde. Worauf dem Gericht nichts anderes übrig blieb, als das neue Kapitel in der Fernsehgeschichte erst einmal wieder zu schließen.
Ein Präzedenzfall für die Einschränkung der neuen Fernsehfreiheit gleich bei deren Premiere, die dem neuen Format vermutlich nicht gut bekommt.
Den KritikerInnen, die bereits warnend auf das Beispiel des US-Gerichtsfernsehsenders „Court Room TV“ verwiesen hatten, kommt dieser Fehlstart natürlich recht. Gerichtsprozesse, um Vormittage unterhaltsamer zu gestalten und publizitätssüchtigen Anwälten ein Podium zu bieten: „Lasst uns auf derartigen Fortschritt in Schweden verzichten!“, appellierte Thorulf Arwidson, selbst Rechtsanwalt, in der Tageszeitung Svenska Dagbladet. Hier werde die Seriosität von Prozessen kommerziellen Interessen und solchen „einzelner Akteure“ geopfert.
Womit er offenbar auf Justizminister Thomas Bodström zielt. Dieses derzeit populärste Mitglied des Kabinetts sei, so Arwidson, von Ministerpräsident Göran Persson aufgrund seiner publikumswirksamen Auftritte in zahlreichen Fernsehdebatten rekrutiert worden – ohne ihn auch nur ein einziges Mal persönlich zu treffen.
Den Regierungschef daran zu hindern, in Zukunft seine Personalentscheidungen nach Fernsehform zu treffen, halten BefürworterInnen von Liveübertragungen aus dem Gerichtssaal aber für kein ausreichendes Gegenargument. Auch in Schweden ist der Grundsatz der „Öffentlichkeit“ von Gerichtsverfahren verfassungsrechtlich verankert. Beim Lindh-Prozess stehen gerade 90 Zuschauerplätze zur Verfügung, von denen 81 für die Medien reserviert sind.
Wo verläuft die Grenze beim viel beschworenen Schutz der „Integrität des Einzelnen“? Bei 100 ZuschauerInnen? Oder bei einer Million? Und dürfe das Recht auf Öffentlichkeit von der Anzahl der vorhandenen Stühle abhängig gemacht werden?
Ein „Court Room TV“ ist sowieso in Schweden kaum aktuell. Nicht nur wegen der glücklicherweise relativ seltenen Gewaltverbrechen. Sondern auch, da die Prozesse selbst in der Regel stinklangweilig sind: kein dramatisches Kreuzverhör, keine theatralischen Anwälte, keine zu manipulierende Jury oder spannende Schlussplädoyers. Wer dergleichen sehen will, der wird auch in Zukunft auf den Spielfilmsender mit US-Gerichtsdramen zappen müssen. Die TV-Dämme werden aber auch deshalb nicht brechen, weil die schwedischen RichterInnen deutlich Skepsis signalisiert haben, ihren Job in Zukunft im Zweifel in Live-Übertragung machen zu sollen. Von so etwas wie Richterin Barbara Salesch, Richter Alexander Hold oder ähnlichem Füllmaterial ist Schwedens nachmittägliches Programmtableau nämlich bislang verschont geblieben.
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